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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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schnell.
Da zeigen sich einige Urinstinkte. Etwas eingerostet, weiter nichts.
    Die 906 lief am Rand der
Überschwemmungsebene vorbei, Richtung Monessen. Die bewaldete Talseite stieg
direkt dahinter an, doch in der Flusssenke befanden sich alte Gebäude,
Lagerhäuser und Fabriken. Dicht an dicht fuhren amerikanische Kleinwagen und
dazwischen alte Pick-ups. Es gab kaum genugAsphalt für PKW s, und auch der unkrautige Straßenrand war schmal –
die Luft bebte, selbst wenn ein kleineres Gefährt vorüberfuhr. Ein halbes
Dutzend Menschen lief in unterschiedlichen Abständen zu Fuß hier lang, wie er
Richtung Monessen, was mal zu den wohlhabendsten Städten dieses Tals gehört
hatte und heute eine seiner ärmsten war. Da dümpelten die Reste des
Verkoksungsbetriebs U.S. Steel noch weiter, ein paar
Hundert Arbeitsplätze. Und ansonsten massenhaft Sozialbauten.
    Eine halbe Stunde später kam er nach Monessen, größtenteils sah es
wie in Buell aus, steile Hügel ragten aus der flachen Flussebene hoch, und oben
terrassierte Viertel, Steinkirchen und Holzkirchen sowie drei orthodoxe Kirchen
mit vergoldeten Kuppeln. Überall Bäume. Aus der Ferne sah das friedlich aus.
Von nahem wirkte es verlassen – die Gebäude größtenteils vollkommen ungepflegt,
vandalisiert, vernachlässigt. Auch in der Innenstadt, wo ein paar Autos
parkten, standen praktisch alle Häuser leer, alte Geschäfte, alte
Ladenschilder, alte Zu vermieten -Schilder in
den meisten Schaufenstern. Ein Lebenszeichen kam nur von der Koksfabrik am
Fluss mit ihren langen rostfleckigen Bauten, aus dem hohen Abluftschornstein,
wo sie Wassergas abbrannten, quollen manchmal Dampfwolken auf Grund der
Kokslöschung. Ein Schaufellader, groß genug für einen Sattelschlepper, lud von
einem Lastkahn Kohlen ab und warf sie auf ein Fließband, das zum Hauptgebäude
führte. Auf den Bahngleisen drängten sich offene Güterwagen, voll mit staubig
schwarzem Koks, und bis auf Isaac war keine Menschenseele weit und breit zu
sehen.
    In der Innenstadt fand er ein Restaurant, das offen war. Die Kellnerin
saß ganz allein an einem Tisch am Fenster, starrte lächelnd in die Ferne, bis
sie ihn hereinkommen sah. Sonnenlicht lag auf ihr, und sie hatte keine Lust,
sich aufzuraffen. Etwa fünfzig, schätzte er, die Haare waren blond gefärbt.
    »Ach Kleiner«, sagte sie. »Wenn du so aussiehst, kann ich dich nicht
reinlassen.«
    »Ich mach mich sauber«, sagte er. »Es war ein Überfall.« Er sah
sich in dem Diner um, dem Restaurant, was immer. Es war nur ein anderer Kunde
da.
    Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt ein Krankenhaus in Charleroi,
hinter der Brücke«, sagte sie.
    »Ich habe Geld.« Er öffnete das Portemonnaie für sie und roch das
Essen, Bratkartoffeln, Fleisch, er würde sich nicht von der Stelle rühren. Er
war selber überrascht, dass er ihr standhielt – früher wäre er sofort gegangen,
hätte sich was anderes gesucht. »Versetzen Sie sich mal in meine Lage«, sagte
er.
    Kurz überlegte er, ob er zu weit gegangen war, aber dann seufzte sie
und wies ihn in den hinteren Teil des Diners, Richtung Waschräume. Der andere
Kunde war ein schwarzer Mann im mittleren Alter mit Vesperdose, der von seiner
Zeitschrift zu Isaac hochsah und schnell wieder weg. Er nippte an dem Kaffee
und warf keinen Blick mehr in Isaacs Richtung.
    Um zu den Toiletten zu gelangen, musste er sich an gestapelten Kisten
voller Papierhandtücher oder Speiseöl vorbeizwängen, und als er drin war,
schloss er ab und schaute in den Spiegel. Eine schlickverklebte Leiche aus dem
Fluss. Oder dem Massengrab. Die Hose und der Anorak waren voll Schlamm und Gras
und das Gesicht von Aschendreck verschmiert. Er selber hätte sich in keinen
Diner oder sonst wo reingelassen. Auge dick geschwollen, Lippe aufgeplatzt, und
schwer zu sagen, wo das getrocknete Blut aufhörte und der Dreck anfing. Nachdem
er auf dem Klo gewesen war, zog er sich aus und stellte sich vor Waschbecken
und Spiegel; dieses schmutzbraune Gesicht gehörte nicht zu seinem bleichen
weißen Körper und den rosa Kratzern an den Rippen und dem schwachen Lila
aufblühender blauer Flecken. Er wusch Haare und Gesicht über dem Becken,
überall spritzte der Dreck hin, und er dachte, das zerbrechlichste Wesen ist
doch der Mensch – die anderen noch mehr als du. Die Wäsche mit dem kalten
Handtuch, eine Art der Leichenwäsche. Letztes Bad des Körpers. Mit besonderer
Aufmerksamkeit für jede Furche –heute wird wahrscheinlich so ein
Spritzschlauch eingesetzt,

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