Rost
kennt.«
»Stopp. Bleib bitte kurz mal stehen. Bitte?«
Er blieb stehen.
»Gehen wir zurück zum Wagen«, sagte sie, nahm seine Hand, er sah
sie an, zog aber nicht die Hand weg. Als sie drinnen saßen, ließ sie zwar den
Motor an und schaltete die Heizung ein, die Scheinwerfer allerdings nicht. Sie
beugte sich zu ihm, zum Küssen, und er hielt sie auf, sah sie verletzt an, aber
dann erwiderte er den Kuss doch. Es ratterte in ihrem Kopf, auf zehn
verschiedenen Ebenen, das war Statistik und Erwartungswert: Du hast drei
Menschen, Variante A schützt einen davon, Variante B schützt zwei, ein anderer
Teil von ihr spürte Poes Finger zwischen ihren Beinen, es war klar, für welche
Variante die Entscheidung fallen würde. Lee schob sich zu diesen Fingern hin
und merkte, etwas in ihr wurde leer, und dann geschah noch etwas anderes, sie
tauchte wieder auf und konnte weiterdenken. Einen Anwalt brauchte Poe auf jeden
Fall, sie hätte so viel sagen wollen, eine ganze Flut von Worten, doch die
musste sie zurückhalten, in solchen Fällen holte man sich keinen
Pflichtverteidiger, man holte einen Star. Ein Pflichtverteidiger verschlief
deinen Prozess, ein Pflichtverteidiger gestattete dem Staat, von einer fairen
Chance rumzuschwafeln, nachdem er dich lebenslänglich weggesperrt hatte.
»Was ist denn«, fragte Poe.
»Nichts.«
»Willst du einfach nur hier liegen?«
»Nein.« Sie steckte seine Hand zurück.
***
Nachher legte sie den Kopf in seinen Schoß, sie roch sich
selbst an ihm und zog die Beine an. Er strich mit einer Hand an ihren Beinen
lang bis zu den Hüften und dann wieder runter. Warme Heizungsluft blies über
ihr Gesicht. Kurz fühlte sie sich leicht, fast schwerelos, wie in dem
Augenblick des Schwebens überm Sprungbrett, kurz bevor die Schwerkraft einen
packt. Sie dachte: Ich würd alles tun, damit nur dies Gefühl nicht aufhört.
Billy schlief, die warme Luft blies auf sie beide, schwach kam
Licht vom Armaturenbrett, sie fuhr sacht über seine Beine, mit den Fingern
durch die Härchen zwischen ihnen, dann berührte sie die Autoscheibe, kaltes
Glas, da draußen war’s sehr kalt. Sie wusste, wie sie sich entscheiden würde.
Das hier war nicht Romeo und Julia. Das Schweben war vorbei, es blieb nur das
Gefühl des Fallens, sie musste sich aufsetzen, den Kopf ans Fenster lehnen zu
der Kälte, denn sie schaffte es nicht, klar zu denken. Simon anrufen. Der war
ihr Anker. Poe bewegte sich, mechanisch rieb sie seinen Arm, jetzt war ihr
wieder schlecht, sie musste aus dem Auto aussteigen, sie zog sich hastig an,
manches auf links, sie griff nach ihrer Tasche und stieg aus, schloss sanft die
Wagentür.
Ihr Handy hatte hier Empfang. Sie blickte auf das Auto, auf den
drinnen schlafenden Poe, wieder auf ihr Handy, wählte schließlich Simons
Nummer. Der berühmte Spruch kam: »Zugegeben, ich bin Insasse einer
psychiatrischen Anstalt.« Es klingelte, und dann ging Simon dran. Sie trat ein
ganzes Stück vom Auto weg, unter die Bäume, wo der Fluss zu hören war.
»Mein Liebes«, sagte er, »bist du auf dem Nachhauseweg?«
»Noch nicht.«
»Und hast du deinen Bruder schon gefunden?«
»Sozusagen«, sagte sie, »und dann wieder verloren.«
»Na, dann hoffe ich, du findest ihn bald«, sagte er. »Mir geht es lausig
ohne dich.«
»Ich muss noch bleiben. Morgen rede ich mit ein paar Krankenschwestern.«
»Schön schön schön. Ach weißt du, ich hätt mitkommen sollen. Es tut
mir leid, dass ich so kindisch war. Ich sollte jetzt dort bei dir sein.«
Es schnürte ihr die Kehle zu, im Hintergrund hörte sie Leute reden,
keine Ahnung, sie war kurz davor, ihm alles zu erzählen.
»Hör mal«, sagte er, »die Jungs und Mädels sitzen alle hier, sind
aus der Stadt gekommen, kann ich dich heut Abend später oder morgen noch mal
anrufen?«
»Okay.«
»Sie sagen alle hallo. Los, sagt hallo, Leute.«
Aus dem Hintergrund kamen die Stimmen, ein Geklingel, Stimmen ihrer
Freunde, fern und sinnlos.
»Unser Freund, Herr Bolton, hat uns eine Kiste Veuve Clicquot gebracht.«
»Hör bitte zu, ganz kurz. Ich brauche vielleicht Geld. Mein Bruder
könnte einen Anwalt brauchen.«
»Ist es schlimm?«
»Das weiß ich nicht.« Sie stockte. »Das ist noch nicht richtig
klar.«
»Lee«, sagte er. »Es tut mir wirklich leid. Es tut mir leid, ich
hätte mit dir runterfahren sollen.«
»Ist schon gut, ich freu mich, dass du drangegangen bist. Ich dreh
hier grad ein bisschen durch.«
»Ich komme morgen, mit dem ersten Flug.«
Sie musste
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