Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
Vom Netzwerk:
Ekel ... Wie? Sie wohnen im Hause eines Grandseigneurs und kennen den Ausspruch des Herzogs von Castries über Dalembert und Rousseau nicht? ›So einer will über alles urteilen und hat keine tausend Taler Rente!‹«
    »Es gibt keine Geheimnisse!« dachte Julian, »hier ebensowenig wie im Seminar.« Er besaß acht oder zehn Seiten eines Herzensergusses, eine Art Nachruf auf den alten Stabsarzt, der ihn, wie er glaubte, zum Manne gemacht hatte. »Und dies kleine Heft«, sagte Julian sich, »ist immer eingeschlossen gewesen.« Er ging auf sein Zimmer, verbrannte das Manuskript und kehrte in den Salon zurück. Die geistreichen Halunken hatten ihn inzwischen verlassen; nur die Leute mit Orden waren noch da.
    Eine Tafel ward vollständig gedeckt hereingetragen. Man setzte sich. Zugegen waren unter anderen sieben oder acht sehr adlige, sehr fromme und sehr gezierte Damen im Alter von dreißig bis fünfunddreißig Jahren. Die Marschallin von Fervaques, eine glänzende Erscheinung, kam noch und entschuldigte sich wegen ihres späten Kommens. Es war nach Mitternacht. Sie nahm neben der Marquise Platz. Julian war tief bewegt. Sie hatte dieselben Augen und ganz den Blick wie Frau von Rênal.
    Der Kreis um Fräulein von La Mole war noch ziemlich groß. Sie und ihre Freunde vertrieben sich die Zeit mit Witzen über den bedauernswerten Grafen Thaler, den einzigen Sohn eines berüchtigten Juden, der zu allbekanntem Reichtum gekommen war, indem er den Königen Geld lieh, damit sie die Völker in Kriege stürzen konnten. Als der Jude starb, hinterließ er seinem Sohn neben einem nur zu bekannten Namen eine Monatsrente von hunderttausend Talern. Diese heiklen Lebensumstände hätten entweder einen schlichten Charakter oder große Willenskraft erheischt. Aber unglücklicherweise war der Graf ein Alltagsmensch mit allerhand Prätentionen, die ihm seine Schmeichler eingeredet hatten.
    Graf Caylus behauptete, man hätte ihn auf die Absicht gebracht, sich um Fräulein von La Mole zu bewerben! (Es sei bemerkt, daß sich um sie schon der Marquis von Croisenois, künftiger Herzog mit hunderttausend Franken Rente, bemühte.)
    »Ach, beschuldigen Sie ihn doch nicht, Absichten zu haben!« bemerkte Norbert mitleidig.
    Was dem armen Grafen Thaler wohl am meisten fehlte, das war in der Tat die Fähigkeit, etwas zu wollen. Somit wäre er würdig gewesen, auf einem Throne zu sitzen. Indem er von jedermann Rat annahm, hatte er niemals den Mut, irgend etwas durchzuführen.
    Allein sein Gesichtsausdruck reiche hin, sie immerfort vergnügt zu machen, meinte Fräulein Mathilde. Es lag ein sonderbares Gemisch von Erwartung und Enttäuschung darin, aber von Zeit zu Zeit konnte man deutliche Spuren seines Dünkels aus dem scharfen Ton heraushören, den der reichste Mann Frankreichs sich leisten konnte, zumal er erst sechsunddreißig Jahre alt und sonst keine unüble Erscheinung war.
    »Er ist schüchtern-frech«, meinte Croisenois. Graf Caylus, Norbert und zwei, drei andre junge Dandys verulkten ihn nach Herzenslust, ohne daß er es merkte, und ekelten ihn schließlich weg, als es ein Uhr schlug.
    »Lassen Sie Ihre berühmten Araber bei dem Wetter vor der Tür warten?« fragte Norbert.
    »Nein, heute holt mich ein neues Gespann ab, das nicht so teuer ist«, antwortete Herr von Thaler. »Das Sattelpferd kostet mich fünftausend Franken. Das Handpferd ist nur zweitausend wert. Natürlich benutze ich diese Pferde nur bei Nacht. Sie traben aber genauso wie meine Araber.«
    Norberts Bemerkung erinnerte den semitischen Grafen daran, daß ein Gentleman wie er Pferdefreund sein müsse und daß man seine Tiere im Regen nicht so lange stehenlassen dürfe. Daraufhin brach Thaler auf. Unter Spötteleien über ihn gingen die andern Herren einen Augenblick später.
    »So war es mir vergönnt«, dachte Julian, als er sie auf der Treppe lachen hörte, »mein Gegenstück zu sehen. Ich habe keine hundert Taler Zinsen im Jahre und stand eben neben einem Manne, der in jeder Stunde soviel zu verzehren hat. Und doch machte man sich über ihn lustig! Das kuriert einen vom Neid.«

----

Fünftes Kapitel
Die Empfindsamkeit
und eine vornehme fromme Dame
Ein halbwegs lebendiger Gedanke wirkt dort wie eine Taktlosigkeit, so sehr ist man an abgegriffene Redensarten gewöhnt. Weh dem, der eigene Gedanken äußert!
    Faublas
    N ach mehrmonatiger Probezeit hatte Julian vom Intendanten des Hauses soeben die dritte Vierteljahrsrate seines Gehalts empfangen. Es stand jetzt folgendermaßen

Weitere Kostenlose Bücher