Rot und Schwarz
ein freies Wort über einen betrüblichen Umstand zugestehen, so muß ich sagen: England hat nicht genügend klar erkannt, daß gegen einen Mann wie Bonaparte, zumal da man ihm lediglich eine Reihe guter Absichten entgegenzustellen hatte, nicht anders als durch Maßregeln gegen seine Person etwas Ordentliches auszurichten war.«
»Schon wieder ein Loblied auf den Mord!« bemerkte der Hausherr.
»Nur keine Sentimentalitäten!« rief der Vorsitzende mißlaunig. Sein Eberauge funkelte. »Fahren Sie fort!« gebot er dem Westenmann.
»Das edle Britannien«, begann der Redner von neuem, »ist heute total niedergebrochen, denn jeder Engländer muß, ehe er sein täglich Brot bezahlt, die Zinsen der vierzig Milliarden aufbringen, die gegen die Jakobiner verbraucht worden sind. Einen Pitt hat England nicht mehr –«
»Es hat den Herzog von Wellington!« sagte eine zweifellos militärische Persönlichkeit, die sich in Positur setzte.
»Bitte Ruhe, meine Herren!« rief der Vorsitzende. »Wenn wir weiter streiten wollen, brauchten wir Herrn Sorel noch nicht hereinkommen zu lassen.«
»Die Vielseitigkeit des Herrn Zwischenredners ist uns nichts Neues!« bemerkte der Herzog, indem er den Ruhestörer, einen ehemaligen napoleonischen General, pikiert ansah. Julian verstand, daß dies eine persönliche, sehr kränkende Anspielung war. Man lächelte allgemein, und der Renegat wurde rot vor Zorn.
»Es gibt keinen Pitt mehr«, wiederholte der Redner im verzweifelten Tone eines Mannes, der es aufgibt, seinen Zuhörern Verständnis beizubringen, »und erstünde auch ein neuer Pitt in England: ein zweites Mal läßt sich ein Volk mit denselben Mitteln nicht düpieren.«
»Aus demselben Grunde ist auch ein zweiter Bonaparte ein Unding für Frankreich!« warf der militärische Störenfried von neuem ein.
Diesmal wagten weder der Vorsitzende noch der Herzog ihren Unwillen kundzugeben, obschon Julian in ihren Augen zu lesen glaubte, daß sie große Lust dazu hegten. Sie schlugen beide die Blicke nieder, wenn auch der Herzog nicht umhinkonnte so laut zu seufzen, daß es jedermann hörte.
Der Referent nahm dies übel.
»Ich rede offenbar bereits zu lange«, bemerkte er brüsk, wobei er seine lächelnde Höflichkeit und seine gemessene Ausdrucksweise vergaß, die Julian als Charakteristika seines Wesens aufgefaßt hatte. »Man wünscht, daß ich zu Ende komme. Meinetwegen, meine Herren! Ich will mich kurz fassen. In dürren Worten sage ich Ihnen also: England hat keinen roten Heller mehr übrig für die gute Sache. Selbst ein Pitt mit all seinem Genie könnte die kleinen englischen Agrarier kein zweites Mal an der Nase herumführen, dieweil sie wissen, daß ihnen der kurze Feldzug von Waterloo allein eine Milliarde Franken zu stehen gekommen ist. Da ich ohne Umschweife reden soll...«, der Redner ereiferte sich mehr und mehr, »... so erkläre ich Ihnen: Helft euch selbst! England hat kein Geld mehr für eure Interessen. Und wenn England kein Geld gibt, so können Österreich, Rußland und Preußen, die wohl Courage, aber kein Geld haben, zur Not einen oder zwei Feldzüge gegen Frankreich unternehmen, aber mehr nicht. Wohl ist zu hoffen, daß die von den Jakobinern aufgebotenen Rekruten im ersten und vielleicht auch im zweiten Feldzug geschlagen werden. Aber im dritten – und das sage ich Ihnen auf die Gefahr hin, von Ihnen als Revolutionär gescholten zu werden – im dritten Feldzug werden wir wiederum die Soldaten von 1794 haben, die ihr Rekrutentum von 1792 gründlich abgelegt hatten ...«
Diesmal wurde er von drei oder vier Seiten zugleich unterbrochen.
»Herr Sorel!« rief der Vorsitzende Julian zu. »Schreiben Sie im Nebenzimmer Ihr bisheriges Protokoll in die Reinschrift!«
Es war, wie schon gesagt, sechsundzwanzig Seiten lang.
Ungern verließ Julian den Saal. Der Redner hatte gerade angefangen, von Möglichkeiten zu sprechen, über die er selber fast fortwährend nachdachte. »Sie haben Angst, daß ich mich über sie lustig machen könnte«, dachte er. Als man ihn wieder hereinrief, sprach Herr von La Mole. In einem Ernst, der Julian sehr spaßig vorkam, weil er ihn ganz anders kannte, deklamierte der Marquis soeben:
»Ja, meine Herren, gerade in bezug auf unser Volk kann man wie der Fabeldichter fragen: Wird es ein Gott oder weiß der Teufel was? und mit dem Dichter antworten: Ein Gott! Nehmen Sie an, dies feine sinnreiche Wort sei an Sie gerichtet! Beweisen wir unsre eigne Kraft, und das edle Frankreich unsrer
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