Rot und Schwarz
Rênal eine einfache und rasche Entwicklung gehabt. In den Großstädten ist die Literatur die Verführerin zur Liebschaft. Dem jungen Hauslehrer und seiner scheuen Herrin wäre aus dem oder jenem Roman die Erleuchtung gekommen, und selbst Operettencouplets hätten den beiden die Augen geöffnet. Romangestalten hätten ihnen die Worte vorgesprochen und ihnen die Wege gezeigt. Früher oder später hätte ein solches Vorbild Julian zur Nachahmung gereizt. Er wäre diesem Ideale unbedingt gefolgt, wenn auch vielleicht ohne jeden Genuß, vielleicht sogar mit Widerstreben.
In südlicherer Gegend, etwa am Aveyron oder in den Pyrenäen, hätte die Glut der Sonne das kleinste Ereignis folgenschwer gemacht. In kühleren Himmelsstrichen verkehrt ein junger Mann, dessen sentimentaler Ehrgeiz über die mit Geld zu erlangende Befriedigung kleiner Gelüste nicht hinausgeht, tagtäglich mit einer dreißigjährigen Frau, die wirklich tugendhaft ist und in der Erziehung ihrer Kinder aufgeht, ohne daß es ihm beikommt, wie ein Romanheld zu handeln. Überdies entwickeln sich in ländlichen Gegenden die Dinge langsam und allmählich, aber natürlicher.
Wenn Frau von Rênal über die Armut des jungen Hauslehrers nachdachte, traten ihr zuweilen Tränen der Rührung in die Augen. Eines Tages, als sie so weinte, ward sie von Julian überrascht.
»Ist Ihnen ein Leid widerfahren, gnädige Frau?«
»Nein, mein Lieber«, antwortete sie ihm. »Rufen Sie die Kinder! Wir wollen ausgehen.«
Sie nahm seinen Arm und stützte sich darauf in einer Weise, bei der Julian ganz sonderbar zumute ward. Es war das erstemal, daß sie ihn Mein Lieber nannte. Gegen Ende des Spazierganges bemerkte er, daß sie ein hochrotes Gesicht hatte. Sie verlangsamte ihre Schritte.
»Es wird Ihnen nicht unbekannt sein«, begann sie, ohne ihn anzublicken, »daß ich die einzige Erbin einer sehr reichen Tante bin, die in Besançon wohnt. Sie überhäuft mich mit Geschenken ... Meine Söhne machen ... wirklich erstaunliche Fortschritte ... und deshalb möchte ich Sie bitten... ein kleines Geschenk anzunehmen... ein Zeichen meiner Dankbarkeit... nur ein paar Goldstücke,.. für die Sie sich neue Wäsche anschaffen könnten ... Aber ...«
Sie wurde noch röter und blieb in ihrer Rede stecken.
»Gnädige Frau ...«, erwiderte Julian.
»Aber mein Mann braucht nichts davon zu wissen ...«, fuhr sie fort, den Blick zu Boden gesenkt.
Julian blieb stehen und richtete sich kerzengerade in die Höhe. Seine Augen blitzten vor Zorn.
»Ich bin ein armer Schlucker, gnädige Frau, aber kein Lump! Über den Unterschied haben Sie nicht recht nachgedacht. Ich stände tiefer als ein Lakai, wenn ich Herrn von Rênal etwas verheimlichen wollte, was mein Geld anbeträfe.«
Frau von Rênal fühlte sich tief beschämt.
Julian fuhr fort: »Der Herr Bürgermeister hat mir fünfmal je sechsunddreißig Franken gegeben, seit ich in seinem Hause bin. Ich kann ihm mein Ausgabebuch jederzeit vorlegen. Ihm wie jedem andern. Selbst Herrn Valenod, meinem Feinde.«
Frau von Rênal blieb blaß und zitternd, bis sie das Haus erreichten. Weder ihr noch ihm fiel bis zur Beendigung des Spazierganges etwas Geeignetes ein, das Gespräch wieder anzuknüpfen.
Aus Julians hochmütigem Herzen floh die Liebe zu Frau von Rênal mehr und mehr, während sie vor ihm Hochachtung, ja Bewunderung hegte: war sie doch von ihm ausgescholten worden! Indem sie sich einredete, sie müsse die Kränkung, die sie Julian ungewollt angetan, wieder gutmachen, erlaubte sie sich die zärtlichste Fürsorge um ihn. Das Neue, das sie hierbei empfand, versetzte sie acht Tage lang in Glück. Der Erfolg war, daß sich sein Zorn etwas abkühlte. Indessen war er weit davon entfernt, die Anteilnahme seiner Herrin etwa gar als persönliche Zuneigung zu deuten.
»So sind die reichen Leute!« sagte er sich. »Erst demütigen sie unsereinen, und dann glauben sie, mit ein bißchen Getue wäre gleich alles wieder gut.«
Frau von Rênal war das Herz allzu schwer, auch war sie noch zu unverdorben, als daß sie die Sache trotz ihres Vorsatzes ihrem Manns verheimlicht hätte. Sie erzählte ihm, was sie Julian angeboten und wie er es zurückgewiesen hatte.
»Was?« fuhr Herr von Rênal ärgerlich auf. »Du hast dir so eine Abfuhr von einem Dienstboten gefallen lassen!« Frau von Rênal beanstandete diese Bezeichnung. Da ward er heftig.
»Meine Verehrteste, ich finde keine andern Worte als die des hochseligen Fürsten von Conde. Als er
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