Rot und Schwarz
Fervaques. In seiner Stube las er das Original des tags zuvor abgeschriebenen Briefes noch einmal durch. Sofort fand er die falsche Stelle, wo von London und Richmond die Rede war. Zu seiner Überraschung entdeckte er auch, daß der Brief recht zärtlich war.
Der Gegensatz zwischen der zur Schau getragenen Oberflächlichkeit von Julians mündlichen Äußerungen und der wunderbaren, geradezu apokalyptischen Tiefe seiner Briefe war es, der Eindruck auf Frau von Fervaques machte. Besonders gefiel ihr die Länge der Sätze. »Das ist etwas ganz andres als der sprunghafte Stil, den dieser unmoralische Mensch, der Voltaire, in die Mode gebracht hat!« dachte sie.
Obwohl Julian sich Mühe gab, in dem, was er sagte, jede Spur von gesundem Menschenverstand zu tilgen, so hatten seine Worte doch immer noch einen antimonarchischen und unfrommen Anflug, was der Marschallin nicht entging. Umgeben von lauter strengmoralischen Leuten, die oft den ganzen Abend keinen einzigen Gedanken bekundeten, war die Marschallin sehr empfänglich für Ideen, die ihr neu vorkamen. Aus Pflichtgefühl machte sie sich alsbald darüber Vorwürfe. »Die sündhafte Zeit färbt ab!« pflegte sie zur Entschuldigung ihrer Schwäche zu sagen. Während all der Zeit, in der sich die Episode Fervaques in Julians Leben abspielte, erwehrte sich Fräulein von La Mole nur mit Mühe des fortwährenden Denkens an den Geliebten. In ihrem Innern tobten heftige Kämpfe. Zuweilen schmeichelte sie sich, den grüblerischen jungen Mann zu verachten, aber immer wieder, mochte sie wollen oder nicht, lauschte sie voll Anteil seinem Gespräch. Besonders erstaunt war sie über seine vollendete Falschheit. Jedes Wort, das er der Marschallin sagte, war Lüge, zum mindesten abscheuliche Verschleierung seiner wahren Welt- und Lebensanschauung, die Mathilde genau kannte.
Dieser Machiavellismus verwunderte sie. »Es ist Geist darin«, meinte sie bei sich. »Welch Unterschied zwischen ihm und den geistlosen Scharlatanen und gemeinen Schelmen, die ebenso salbadern; Tanbeau zum Beispiel!«
Leicht fiel Julian seine Rolle keineswegs. Es war eine harte Pflicht, die er erfüllte, indem er Tag für Tag im Salon der Marschallin erschien. Die Mühe, die ihm diese Komödie verursachte, raubte seiner Seele alle Spannkraft. Oft, wenn er nachts den weiten Hof des Hauses Fervaques durchschritt, mußte er seine ganze Willens- und Verstandeskraft zusammennehmen, um nicht innerlich zusammenzubrechen. Dann sagte er sich: »Ich habe im Seminar die Verzweiflung überwunden, obwohl ich damals in eine grauenhafte Zukunft sah. Entweder baute ich mir eine Laufbahn, oder ich verscherzte sie mir. In beiden Fällen mußte ich damit rechnen, mein Leben lang in engster Gemeinschaft mit dem Verächtlichsten und Widerwärtigsten zu verbringen, was es in der Welt gibt. Kaum elf Monate später, im Frühjahr, war ich vielleicht der glücklichste meiner Altersgenossen.«
Aber recht häufig waren solche Vernunftspredigten ohnmächtig angesichts der schrecklichen Wirklichkeit. Er sah Fräulein von La Mole Tag um Tag beim Frühstück und beim Mittagsmahl. Aus verschiedenen Briefen, die ihm der Marquis diktierte, erfuhr er, daß Mathildens Heirat mit Herrn von Croisenois nahe bevorstand. Der liebenswürdige junge Mann stellte sich bereits täglich zweimal im Hause La Mole ein. Keiner dieser Besuche entging den eifersüchtigen Augen des verlassenen Geliebten. Wenn er sich einbildete, beobachtet zu haben, daß Fräulein von La Mole ihren Bräutigam gnädig behandelt hatte, konnte er sich hinterher in seinem Zimmer nicht davor bewahren, mit seiner Pistole zu liebäugeln. »Ach, wäre es nicht das beste«, seufzte er, »wenn ich aus meiner Wäsche die Monogramme entfernte und in einen einsamen Wald ginge, drei Meilen vor Paris, um meinem nichtswürdigen Dasein ein Ende zu machen? Niemand könnte mich rekognoszieren, und vierzehn Tage nach meinem Verschwinden dächte kein Mensch mehr an mich.«
Dagegen war nichts einzuwenden. Doch am andern Morgen genügte ein Blick auf das Stück von Mathildens Arm, das zwischen Ärmel und Handschuh zu sehen war, um dem jungen Philosophen qualvolle Erinnerungen heraufzubeschwören. Sie ketteten ihn an das Leben. »Meinetwegen«, sagte er sich ergeben, »ich will die russische Politik weiterverfolgen. Wie wird das enden? Was die Marschallin betrifft, so soll die Abschrift des dreiundfünfzigsten Briefes das letzte sein, was ich ihr schreibe. Aber Mathilde? Wird diese sechs Wochen lange
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