Rot und Schwarz
»Jahrhundert der Prüderie!« dachte Julian.
Er bemerkte drei Persönlichkeiten, die seinerzeit bei der Abfassung der geheimen Note zugegen gewesen waren. Einer von ihnen, der Bischof von ***, der Onkel der Marschallin, hatte die Pfründenverleihung. Man munkelte, er könne seiner Nichte keinen Wunsch abschlagen. »Ich habe in meiner Karriere einen Riesenschritt vorwärts getan«, sagte sich Julian mit wehmütigem Lächeln. »Und doch ist mir das unsagbar gleichgültig. Schon bin ich der Tischgenosse des einflußreichen Bischofs von ***.«
Das Mahl war mäßig, die Unterhaltung unausstehlich. »So eine Tischgesellschaft ist wie ein schlechtes Buch«, dachte Julian. »Alle großen Probleme der Menschheit werden keck angeschnitten. Hört man aber nur drei Minuten zu, so weiß man nicht, was mehr zum Himmel schreit: die Emphase des Schwätzers oder seine greuliche Unwissenheit.«
Gelegentlich bekam Julian eine lange Strafpredigt vom Pfarrer Pirard zu hören, ob seiner Erfolge im Hause Fervaques. Es herrschte nämlich ein gewisser Sektenneid zwischen den strengen Jansenisten und dem jesuitisch-monarchisch-reaktionären Salon der tugendsamen Marschallin.
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Achtundzwanzigstes Kapitel
Manon Lescaut
Als er aber einmal von der Dummheit und Eselhaftigkeit des Priors überzeugt war, erreichte er fast immer, was er wollte, indem er schwarz nannte, was weiß war, und weiß, was schwarz war.
Lichtenberg
D ie russischen Vorschriften verboten ausdrücklich, der Dame, an die man schrieb, je zu widersprechen. Die Rolle des blinden Schwärmers sollte unbedingt eingehalten werden. Das war die Voraussetzung der Briefe.
Eines Abends in der Oper, in der Loge der Marschallin, lobte Julian das Ballett Manon Lescaut über die Maßen, und zwar einzig und allein, weil er es unbedeutend fand. Frau von Fervaques hingegen meinte, das Ballett stehe tief unter dem gleichnamigen Roman des Abbé Prévost.
Erstaunt und belustigt zugleich sagte sich Julian: »Merkwürdig! Auf einmal preist dies hochmoralische Menschenkind einen Roman!« Die Marschallin pflegte nämlich mindestens alle drei Tage ihrer gründlichen Verachtung der Romanschreiber Ausdruck zu verleihen, indem sie behauptete, ihre öden Machwerke hätten weiter keinen Zweck, als die dem Blendwerk der Sinne sowieso leicht geneigte Jugend gänzlich zu verderben. »Unter den unmoralischen Romanen soll die Manon Lescaut der allergefährlichste sein«, fuhr sie fort. »Die Schwächen und die wohlverdienten Qualen eines sündigen Herzens sollen darin mit meisterlicher Naturtreue geschildert sein, was übrigens Ihren Bonaparte nicht gehindert hat, auf Sankt Helena zu verkünden, das sei ein Roman für Lakaien.«
Das Wort Bonaparte versetzte Julians Seele in Kampfbereitschaft. »Aha«, sagte er sich, »man hat den Versuch gemacht, mich bei meiner Gönnerin anzuschwärzen! Man hat ihr meine Napoleonschwärmerei verraten. Das hat sie dermaßen verschnupft, daß sie der Versuchung, es mich merken zu lassen, nicht widerstehen kann.«
Diese Entdeckung amüsierte ihn den ganzen Abend. Er war ihm nicht mehr langweilig. Als er sich im Vestibül der Oper von der Marschallin verabschiedete, sagte sie zu ihm: »Herr Sorel, ich will Ihnen eins sagen: Wer mich liebt, darf den Bonaparte nicht lieben! Man darf diesen Mann höchstens als eine von der Vorsehung auferlegte Notwendigkeit hinnehmen.«
»Wer mich liebt...«, wiederholte sich Julian, »das sagt alles und nichts! Das sind Sprachgeheimnisse für uns Provinzler.«
Während er einen endlosen Brief an die Marschallin schrieb, mußte er viel an Frau von Rênal denken. –
»Was soll das heißen?« fragte ihn die Marschallin am andern Abend mit sichtlich schlecht gespielter Gleichgültigkeit. »In Ihrem Briefe, den Sie doch wohl gestern abend nach der Oper geschrieben haben, sprechen Sie von London und Richmond?«
Julian ward sehr verlegen. Er hatte mechanisch Wort für Wort abgeschrieben und dabei vergessen, »London« und »Richmond« durch »Paris« und »Saint-Cloud« zu ersetzen. Er stotterte ein paar Worte her, ohne daß es ein vernünftiger Satz wurde, nahe daran, in ein tolles Gelächter auszubrechen. Endlich fand er folgende Ausrede: »Als ich Ihnen schrieb, gnädige Frau, stand ich noch ganz im Nachhall unsres erdenfernen Gesprächs. Ich war gewissermaßen zerstreut ...«
»Ich mache Eindruck«, dachte er bei sich. »Somit kann ich mir heute die weitere Langeweile schenken.«
Mehr laufend als gehend verließ er das Haus
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