Rot und Schwarz
ihr Stolz gekränkt gewesen, wenn ihr ein Spion erzählt hätte, daß alle ihre weiteren Briefe uneröffnet und ungeordnet in Julians Schublade lagen?
Eines Morgens brachte ihm der Pförtner einen Brief der Marschallin in die Bibliothek. Mathilde begegnete dem Manne und bemerkte den Brief mit der von Julians Hand geschriebenen Adresse. Als der Mann wieder herauskam, trat sie in die Bibliothek. Der Brief lag noch auf dem Tischrand. Julian, der eifrig schrieb, hatte ihn noch nicht in sein Schubfach geworfen.
»Das kann ich nicht dulden!« rief Mathilde und riß den Brief an sich. »Sie vergessen mich ganz und gar, mich, Ihre Frau! Ihr Benehmen ist abscheulich!«
Vor Stolz versagte ihr die Sprache. Entsetzt über die maßlose Ungeschicklichkeit ihres Benehmens, brach sie in Tränen aus. Es schien Julian, als höre sie auf zu atmen. Überrascht und verwirrt, erkannte er nicht sofort, wie wundervoll und glückverheißend dieser Auftritt für ihn war. Er half Mathilden auf das Sofa, wobei sie ihn beinahe an sich drückte.
Als er dies wahrnahm, war seine Freude im ersten Augenblick überschwenglich. Der zweite Gedanke aber galt Korasoff.
»Durch ein einziges Wort kann ich alles wieder verderben!« warnte er sich. Seine Arme wurden schlaff, wenngleich ihm die durch seine Politik vorgeschriebene Selbstbeherrschung unendlich schwer und schmerzlich war.
»Ich darf mir nicht einmal erlauben, ihren schmiegsamen wonnigen Leib an mein Herz zu drücken. Entweder verachtet oder quält sie mich! Welch schreckliches Wesen!«
Aber so sehr er Mathildens Charakter schmähte: er liebte sie nur um so mehr. Es war ihm, als hielt er eine Königin in den Armen.
Julians kalte Starrheit vermehrte den Schmerz in Mathildens zerrissener stolzer Seele. Himmelweit davon entfernt, die nötige Kaltblütigkeit zu besitzen, um in seinen Augen seine wirklichen Gefühle in diesem Augenblick zu erschauen, konnte sie sich nicht entschließen, ihn anzusehen. Ihr bangte davor, einem Blick der Verachtung zu begegnen.
So saß sie regungslos auf dem Diwan der Bibliothek, den Kopf von Julian abgewandt und dem tiefsten Leid preisgegeben, das Stolz und Liebe einem menschlichen Herzen zu bereiten vermögen. In welch entsetzliche Irre war sie geraten!
»So weit sollte es also mit mir Unglückseligen kommen! Ich mache den schamlosesten Antrag und werde so zurückgewiesen! Und von wem?« Sie ward vor beleidigtem Stolz beinahe wahnsinnig. »Von einem Diener meines Vaters!«
»Nein, das dulde ich nicht!« rief sie laut aus.
Rasend fuhr sie auf, riß die Schublade von Julians Tisch heraus. Wie versteinert vor Entsetzen erblickte sie darin ein Dutzend uneröffnete Briefe, die genauso aussahen wie der, den der Pförtner vorhin gebracht hatte. Auf allen Umschlägen erkannte sie Julians mehr oder weniger verstellte Handschrift.
»Unerhört!« rief sie außer sich. »Sie stehen mit der Marschallin nicht nur auf vertrautem Fuße, Sie verachten sie auch noch! Sie Mensch ohne Namen, Sie verachten die Marschallin von Fervaques...! Ach nein... verzeihe mir, Geliebtester!« Damit warf sie sich vor ihm auf die Knie. »Verachte mich, wenn du willst, aber liebe mich! Ich kann nicht mehr leben ohne deine Liebe.«
Sie fiel ohnmächtig hin.
»Da liegt sie, die Stolze, zu meinen Füßen!« murmelte Julian.
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Dreißigstes Kapitel
Eine Loge in der Oper
As the blackest sky
Foretells the heaviest tempest.
Byron, Don Juan, I, 73
D er eben erlebte Sturm der Leidenschaft setzte Julian mehr in Verwunderung, als daß er ihn beglückte. Die Beleidigungen, die ihm Mathilde ins Gesicht geschleudert hatte, waren ihm ein Beweis, wie gut die russische Politik war, »Wenig reden, wenig handeln, das ist meine einzige Rettung!«
Er hob Mathilde auf und setzte sie, ohne ein Wort zu sagen, auf den Diwan. Nach einer Weile traten ihr die Tränen in die Augen. Um sich Haltung zu geben, nahm sie die Briefe der Marschallin in die Hand und öffnete langsam einen nach dem andern. Es durchzuckte sie, als sie die Handschrift der Frau von Fervaques erblickte. Sie wandte die Blätter um, ohne sie zu lesen. Fast alle Briefe waren sechs Seiten lang.
»Antworten Sie mir wenigstens!« sagte sie schließlich in flehentlichem Tone, ohne daß sie den Mut hatte, Julian anzusehen. »Sie wissen, ich bin stolz. Daran ist meine gesellschaftliche Stellung schuld und wohl auch mein Charakter. Sei es, wie es sei! Also hat mir Frau von Fervaques Ihr Herz geraubt? Hat sie Ihnen das nämliche Opfer gebracht, zu dem
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