Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
Vom Netzwerk:
Stadt. Mathilde eilte zu Fuß und ohne Begleitung durch die Straßen. Sie bildete sich ein, kein Mensch wüßte, wer sie wäre. Zum mindesten glaubte sie, es könne ihrer Sache nicht schaden, wenn sie Aufsehen erregte. Ja, in ihrem Wahne meinte sie, sie könne das Volk in Aufruhr bringen, um ihn auf seinem Todesgange zu retten. Sie hielt sich für einfach gekleidet, wie es sich für eine Frau in Leid schickt; gleichwohl zog sie aller Blicke auf sich. So war sie längst der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit, als sie es endlich, nach acht Tagen, fertigbrachte, Audienz beim Herrn von Frilair zu erlangen.
    Ihr Mut war groß, aber die Vorstellung, die sie sich von dem einflußreichen Kongregationsoberhaupte gemacht hatte, war mit dem Begriffe verbrecherischer Erzschlauheit derart eng verknüpft, daß sie zitterte, als sie am Tore des bischöflichen Palastes klingelte. Ihre Füße trugen sie kaum, als sie die Treppe hinaufstieg, die zum Empfangszimmer des ersten Großvikars führte. Die Totenstille, die im Hause herrschte, kam ihr unheimlich vor.
    Der erste Blick in das Zimmer, das ihr ein Diener in schmucker Livree öffnete, beruhigte Mathilde. Der Salon, in dem sie warten mußte, offenbarte prunklose Vornehmheit, wie man sie auch in Paris nur in den besten Häusern findet. Als Mathilde den Großvikar erblickte, der mit väterlicher Miene auf sie zukam, schwand ihr jeder Gedanke an Gefahr und Bosheit. In dem schönen Gesicht des Prälaten entdeckte sie nicht einmal die Kennzeichen jener gewissen Halbbarbarei, die der Pariser Gesellschaft den Willensmenschen so unsympathisch macht. Das leise Lächeln, das die Züge des Besançoner Machthabers beherrschte, zeigte, daß der Kirchenfürst Weltmann, Gelehrter und Diplomat war. Mathilde glaubte in Paris zu sein.
    Frilair brachte Mathilde in wenigen Minuten zu dem Geständnisse, daß sie die Tochter seines mächtigen Gegners, des Marquis von La Mole, war.
    »In der Tat, ich bin nicht Frau Michelet«, sagte sie, indem sie ihre hoheitsvolle Haltung wieder annahm. »Und dies gestehe ich um so lieber, als ich gekommen bin, Ihren gütigen Rat einzuholen. Gibt es keine Möglichkeit, Herrn Leutnant von La Vernaye entkommen zu lassen? Erstens ist er lediglich einer im Affekt begangenen Tat schuldig. Der Frau, auf die er geschossen hat, geht es vorzüglich. Zweitens bin ich in der Lage, zu den nötigen Bestechungen sofort fünfzigtausend Franken aufzubringen und weitere hunderttausend Franken zu garantieren. Drittens wäre mir und meiner Familie aus Dankbarkeit für den Retter des Herrn von La Vernaye nichts unmöglich.«
    Frilair war beim Hören dieses Namens sichtlich erstaunt. Mathilde legte ihm mehrere Dienstbriefe des Kriegsministers vor, die an Herrn Leutnant Julian Sorel von La Vernaye gerichtet waren.
    »Sie sehen, Hochwürden, mein Vater hat für seine Karriere gesorgt. Wir haben uns im geheimen geheiratet. Aber mein Vater wünscht, daß unser für eine La Mole ein wenig seltsamer Bund nicht eher veröffentlicht werden soll, als bis mein Mann Stabsoffizier ist.«
    Mathilde bemerkte, daß der Ausdruck der Güte und milden Heiterkeit aus dem Gesicht des Großvikars mehr und mehr schwand, als er eine wichtige Entdeckung nach der andern machte. Dafür lugten Hinterlist und Falschheit hervor.
    Der Abbé äußerte Zweifel. Er studierte die dienstlichen Schriftstücke zum zweiten Male.
    »Welchen Nutzen kann ich aus diesen eigenartigen Eröffnungen ziehen?« fragte er sich im stillen. »Mit einem Schlage bin ich in nahe Beziehung zu einer Freundin der berühmten Marschallin von Fervaques gekommen, der allmächtigen Nichte des Bischofs von ***, der in Frankreich die Bischöfe ernennt. Was ich in Ungewisser Zukunft wähnte, bietet sich mir unversehens. Das kann mich an das Ziel aller meiner Wünsche bringen.«
    Anfangs war Mathilde arg erschrocken über den jähen Wechsel im Gesichtsausdrucke des ihr so wichtigen Mannes, mit dem sie sich allein in einem entlegenen Gemach befand. »Unsinn!« ermutigte sie sich. »Wäre es nicht ein viel schlimmeres Zeichen, wenn ich gar keinen Eindruck auf die kalte Selbstsucht eines von Macht und Genuß gesättigten Pfaffen machte?«
    Geblendet von dem unverhofften Ausblick, der sich seinen nach einem Bistum ausspähenden Augen urplötzlich eröffnete, und verblüfft ob der ihn genial dünkenden Diplomatie der jungen Dame, vergaß der Großvikar einen Augenblick seine gewohnte Vorsicht. Es fehlte nicht viel, so hätte Mathilde den vor Ehrsucht

Weitere Kostenlose Bücher