Rot und Schwarz
Kapitel
Ein mächtiger Mann
Aber es ist so viel Geheimnisvolles in ihrer Art zu schreiten, und so viel Anmut in ihrem Wuchs! Wer mag sie nur sein?
Schiller
A m andern Morgen öffnete sich die Tür des Turmzimmers sehr früh. Julian fuhr aus seinem Schlafe auf. »O Gott!« dachte er. »Jetzt kommt mein Vater. Welch unangenehmer Auftritt!«
Im selben Augenblick fiel ihm eine Frau in Bauerntracht um den Hals. Er erkannte sie kaum. Es war Mathilde.
»Du Böser! Erst durch deinen Brief habe ich Kenntnis, wo du warst! Was du dein Verbrechen nennst, ist edle Rache, die mir deine Hochherzigkeit offenbart. Ich habe in Verrières erfahren...«
Trotz seines Vorurteils gegen Fräulein von La Mole, das er sich übrigens nicht recht eingestand, gefiel sie ihm ungemein. Aus ihrer Art, zu handeln und zu sprechen, erkannte er ihre edle, uneigennützige Absicht, die turmhoch über allem stand, was eine kleine Alltagsseele gewagt hätte. Wieder hatte er das Gefühl, eine Königin zu lieben, und nach etlichen Augenblicken sagte er, erlesen in Ausdruck und Sinn:
»Ich schaue deutlich in die Zukunft. Nach meinem Tode heiratest du Herrn von Croisenois, sozusagen als Witwe. Das edle, nur etwas romantische Gemüt dieser reizenden Witwe ist durch ein seltsames, großes, tragisches Erlebnis entthront und zur Weltanschauung des Durchschnitts bekehrt. Du geruhst die tatsächlichen Vorzüge des jungen Marquis zu würdigen. Du schickst dich in das, was die andern Glück nennen, in Ansehen, Reichtum, gesellschaftlich hohen Rang. Liebe Mathilde, daß du nun aber hier in Besançon erschienen bist, das wäre, falls es ruchbar wird, ein neuer schwerer Schlag für deinen Vater. Das könnte er dir niemals verzeihen. Ich habe ihm schon so sehr viel Kummer bereitet. Er hat eine Schlange an seinem Busen genährt, wie es im Stile der Akademiker heißt...«
Nicht ohne Groll unterbrach ihn Mathilde. »Ich gestehe, auf so kühle Besonnenheit, auf so viel Sorge um die Zukunft war ich nicht gefaßt. Meine Kammerfrau, auch so umsichtig wie du, hat sich einen Paß verschafft, und so bin ich als Frau Michelet mit der Post hergeeilt ...«
»Und Frau Michelet hat es im Spiel fertigbekommen, bis zu mir vorzudringen?«
»Ja! Du bist immerdar der höhere Mensch! Ihm gilt meine Gunst. Zunächst habe ich dem Gerichtsbeamten, der behauptete, ich dürfe auf keinen Fall in deine Zelle, hundert Franken geboten. Der Ehrenmann steckte das Geld ein, vertröstete mich, machte Ausflüchte. Mit einem Worte, ich sah, daß er mich nur plündern wollte...«
»Und dann?« fragte Julian.
»Geduld, mein lieber Junge!« sagte Mathilde und küßte ihn. »Ich mußte dem Gerichtsmenschen meinen Namen sagen. Er hielt mich für eine verliebte kleine Pariser Modistin. Tatsächlich, so drückte er sich aus. Ich schwur ihm, ich sei deine Frau. Daraufhin werde ich die Erlaubnis bekommen, dich täglich besuchen zu dürfen,«
»Das heißt die Torheit auf die Spitze treiben«, sagte sich Julian. »Dies zu verhindern stand nicht in meiner Macht. Schließlich ist Herr von La Mole ein sehr hoher Mann, so daß die öffentliche Meinung schon eine Entschuldigung finden wird, wenn ein junger Oberst diese reizende Witwe heiratet. Nach meinem Tode wird über alles Gras wachsen.«
Berauscht gab er sich Mathildens Liebe hin. Tollheit, Seelengröße, das Allerseltsamste, was es gibt, lag darin. Im vollen Ernst machte Mathilde den Vorschlag, zusammen zu sterben.
Nach dem ersten Gefühlsüberschwang, als sie sich an dem Glücke, Julian wiederzuhaben, gesättigt hatte, ward sie mit einem Male von der lebhaftesten Neugier erfaßt. Sie forschte den Geliebten aus und fand, er sei viel hochherziger, als sie erwartet hatte. Es kam ihr vor, Bonifaz von La Mole sei auferstanden, heldenhafter, als er in Wirklichkeit gewesen.
Mathilde suchte den besten Rechtsanwalt der Stadt auf. Da sie ihm allzu unverblümt Geld bot, tat er verletzt, nahm aber schließlich die Summe. Sehr bald hatte sie die Gewißheit, daß zu Besançon bei wichtigen, in ihrem Ausgange zweifelhaften Fällen die Entscheidung einzig und allein vom Großvikar von Frilair abhing.
Unter dem unscheinbaren Namen einer Frau Michelet hatte sie schier unüberwindliche Schwierigkeiten zu bewältigen, ehe sie bis zu dem allmächtigen Jesuiten vordrang. Inzwischen verbreitete sich das Gerücht von der schönen jungen Modistin, die in ihrer Liebestollheit von Paris nach Besançon gekommen sei, um den jungen Abbé Julian Sorel zu trösten, in der ganzen
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