Rot und Schwarz
anderm stand:
»Ich werde zur Hauptverhandlung nicht erscheinen, weil meine Anwesenheit auf Herrn Sorels Sache ungünstig wirken könnte. Ich hege keinen andern wirklichen Wunsch hienieden als den, Herrn Sorel gerettet zu sehen. Seien Sie überzeugt, der entsetzliche Gedanke, daß meinetwegen ein Schuldloser zum Tode verurteilt worden sei, würde mein ganzes ferneres Leben vergiften und meinen eigenen Tod zweifellos beschleunigen. Sie können ihn nicht in den Tod schicken, da ich am Leben geblieben bin. Menschen haben überhaupt kein Recht, einem Mitmenschen das Leben zu nehmen, noch dazu einem Wesen wie Sorel. Es ist ja in Verrières allgemein bekannt, daß er zuweilen Zustände geistiger Verwirrung hat.
Der arme junge Mann hat mächtige Feinde, aber selbst unter seinen zahlreichen Widersachern zweifelt kaum einer an seinen bewundernswerten Fähigkeiten und seinen gründlichen Kenntnissen. Sie haben über keinen Durchschnittsmenschen zu richten. Anderthalb Jahre haben wir ihn alle fromm, klug und fleißig gesehen. Allerdings hat er zwei- bis dreimal im Jahre Anfälle tiefen Schwermuts gehabt, die bis zum Wahnsinn gegangen sind. Die ganze Stadt Verrières, alle unsre Nachbarn in Vergy, wo wir mit unserm ganzen Haushalt die Sommermonate zu verbringen pflegen, auch der Herr Landrat, alle werden Herrn Sorels musterhafte Frömmigkeit anerkennen. Er kann die ganze Bibel auswendig. Würde sich ein Gottloser der jahrelangen Arbeit widmen, die Heilige Schrift auswendig zu lernen?
Meine Söhne werden die Ehre haben, Ihnen diesen Brief zu überbringen. Es sind Kinder. Wollen Sie sie gütigst befragen. Sie werden Ihnen über ihren unglücklichen ehemaligen Hauslehrer genügend Einzelheiten berichten, um Sie davon zu überzeugen, daß es unmenschlich wäre, wenn man ihn verurteilte. Statt mir eine Sühne zu verschaffen, brächte mir das vielmehr den Tod.
Was können seine Feinde gegen diese Tatsachen vorbringen? Meine Verwundung? Die ist mir in momentaner Geistesgestörtheit beigebracht! Sie ist so belanglos, daß ich, kaum acht Wochen darauf, bereits wieder imstande wäre, mit der Post von Verrières nach Besançon zu reisen. Nur der Wunsch meines Mannes hält mich noch auf dem Krankenlager zurück...«
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Einundvierzigstes Kapitel
Das Urteil
Das ganze Land wird noch lange an diesen berühmten Prozess denken. Die Anteilnahme für den Angeklagten steigerte sich bis zur Erregung. Sein Verbrechen war nämlich erstaunlich, nicht ruchlos. Und wäre es das gewesen, so war der junge Mann doch so schön! Seine Laufbahn stieg so steil an und endete so jäh. Das machte ihn noch bemitleidenswerter. Werden sie ihn verurteilen? fragten die Frauen die Männer in ihrem Bekanntenkreis. und dann sah man, wie sie in Erwartung der Antwort bleich wurden.
Sainte-Beuve
E ndlich brach der von Frau von Rênal und Mathilde so gefürchtete Tag der Hauptverhandlung wider Julian Sorel an. Die sichtliche Erregtheit der Stadt verdoppelte ihre Schreckensangst und ließ selbst Fouqués starkes Herz nicht unbewegt. Aus der weitesten Umgegend strömten die Leute in Scharen nach Besançon herein, um dem Urteil über das romantische Verbrechen beizuwohnen. In den Gasthöfen war schon seit mehreren Tagen keine Unterkunft mehr zu finden. Der Vorsitzende des Schwurgerichts wurde mit Gesuchen um Zutrittskarten bestürmt. Besonders bettelten die Besançoner Damen darum. In den Straßen wurde Julians Bild feilgeboten.
Mathilde hatte als
ultima ratio
ein Handschreiben des Bischofs von *** in die Waagschale geworfen. Der Kirchenfürst, der den Klerus von Frankreich in seiner Gewalt hatte, geruhte Julians Freisprechung zu befürworten. Am Tag zuvor hatte Mathilde dieses Schriftstück dem einflußreichen Großvikar von Frilair übergeben. Als sie sich am Ende ihrer Unterredung unter Tränen von ihm verabschiedete, sagte Frilair, endlich aus seiner diplomatischen Zurückhaltung heraustretend und selber beinahe gerührt, zu ihr: »Ich verbürge mich für das Urteil des Schwurgerichts. Unter den zwölf Mitgliedern, denen es obliegt, festzustellen, ob die Tat Ihres Schützlings erwiesen und vor allem, ob sie mit Vorbedacht geschehen ist, zähle ich sechs zuverlässige Freunde, denen ich zu verstehen gegeben habe, daß es jetzt von ihnen abhängt, ob ich je Bischof werde. Weiterhin verfügt der Baron Valenod, der durch mich Bürgermeister von Verrières geworden ist, todsicher über zwei seiner Untergebenen, die Herren von Moirod und von Cholin. Dafür hat uns das
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