Rot und Schwarz
sich in die Kreise zu wagen, die der Wohlhabende selbstgefällig die gute Gesellschaft zu nennen pflegt.
Meine Herren, das ist mein Verbrechen! Es wird um so härter bestraft werden, als ich nicht von meinesgleichen gerichtet werde. Ich sehe auf den Geschworenenbänken lediglich entrüstete Bürger...«
In diesem Stile sprach er etwa zwanzig Minuten. Er sagte alles, was er auf dem Herzen hatte. Der Staatsanwalt, ein Katzbuckler um die Gunst der herrschenden Klassen, rückte aufgeregt in seinem Lehnstuhle hin und her. Die Frauen aber zerflossen in Tränen, trotz der theoretisierenden Ausdrucksweise, deren sich Julian absichtlich bediente. Sogar Frau Derville hielt ihr Taschentuch vor die Augen. Zu Ende seiner Rede kam er nochmals auf die Vorsätzlichkeit seiner Tat zu sprechen, auf die Hochachtung und die grenzenlose kindliche Verehrung, die er in glücklicheren Tagen für Frau von Rênal gehegt habe, und schließlich auf seine Reue.
Bei dieser Stelle stieß Frau Derville einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht.
Es schlug ein Uhr, als sich die Richter und die Geschworenen zur Beratung zurückzogen. Keine der Damen war vom Platze gewichen. Mehrere Männer hatten tränenfeuchte Augen. Man unterhielt sich, anfangs sehr heftig. Allmählich aber, als die Entscheidung der Richter auf sich warten ließ, begann die allgemeine Ermüdung Ruhe in die Versammlung zu bringen. Es wurde feierlich im Saal. Die Lichter verloren ihre Leuchtkraft.
Julian war erschöpft. Er hörte rings um sich die Frage erörtern, ob die auffällige Länge der Beratung ein gutes oder ein schlimmes Zeichen sei. Zu seiner Freude erkannte er, daß man ihm allgemein Gutes wünschte. Immer noch nicht erschienen die Richter, aber keine der Frauen verließ den Saal.
Als es zwei Uhr schlug, entstand eine Bewegung. Die kleine Tür des Beratungszimmers tat sich auf. Der Baron Valenod, der Obmann, trat gravitätisch ein, die gesamten Geschworenen hinter ihm. Er hüstelte. Darauf verkündete er im Namen des Königs, das Schwurgericht habe nach bestem Wissen und Gewissen einstimmig entschieden, daß Julian Sorel des vorsätzlichen Mordes schuldig sei. Darauf stand die Todesstrafe. Diese wurde einen Augenblick nachher verkündet.
Julian sah auf seine Uhr. Der Graf von Lavalette fiel ihm ein. Es war ein Viertel drei Uhr. »Heute ist Freitag«, sagte er bei sich. »Für Valenod, der mich verurteilt hat, ein Glückstag! Ich werde zu gut bewacht, als daß mich Mathilde retten könnte, wie es Frau von Lavalette gemacht hat ... Also in drei Tagen um diese Zeit werde ich wissen, was an dem Großen Vielleicht ist.«
In diesem Augenblick hörte er einen Schrei, der ihn in die Wirklichkeit zurückversetzte. Die Frauen um ihn herum schluchzten. Er sah, daß sich aller Gesichter nach einer Ecke des großen Zuschauerraumes hingewandt hatten. Später erfuhr er, daß Mathilde, vor ihm versteckt, dort gesessen hatte. Da sich der Schrei nicht wiederholte, blickte alles alsbald wieder nach Julian, den die Schutzleute durch die Menge aus dem Saal führten.
»Ich muß mich bemühen, diesem Schurken, dem Valenod, keinen Anlaß zum Lachen zu geben«, sagte sich Julian. »Mit welch süßlicher, Betrübnis heuchelnder Miene hat er das Urteil verkündet! Dem Vorsitzenden haben die Tränen in den Augen gestanden, obgleich er berufsmäßig und seit Jahren Richter ist. Wie mag Valenod triumphieren, daß er sich jetzt ob unsrer alten Rivalität bei Frau von Rênal gerächt hat...! Frau von Rênal... Ich werde sie also niemals wiedersehen... Das war einmal...! Von einander Abschied nehmen, eine Unmöglichkeit ... ich weiß es ... aber ich wäre glücklich, wenn ich ihr sagen könnte, daß ich meine Tat über alles verächtlich finde ... Ich möchte ihr nichts sagen als die Worte: Ich werde mit Recht in den Tod geschickt!«
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Zweiundvierzigstes Kapitel
B ei der Rückkehr aus dem Verhandlungssaale hatte man Julian in die Zelle gebracht, die für die zum Tode Verurteilten bestimmt war. Er, der sonst die geringste Kleinigkeit wahrnahm, bemerkte gar nicht, daß er nicht in seinen Turm hinaufgeführt wurde. Er träumte sich aus, was er Frau von Rênal sagen wollte, wenn er vor seinem letzten Stündlein das Glück hätte, sie noch einmal zu sehen.
»Wie kann ich sie nach einer solchen Tat überzeugen, daß ich sie und keine andre liebe?« fragte er sich. »Habe ich sie doch morden wollen aus Ehrgeiz oder gar aus Liebe zu Mathilde.«
Als er sich ins Bett legte, verspürte er die grobe
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