Rot und Schwarz
nicht.
Die Zeugen wurden ziemlich rasch vernommen. Bei Beginn der Worte, die der Staatsanwalt hierauf sprach, brachen zwei Damen auf dem Balkon Julian gegenüber in Tränen aus. Er sagte sich: »Frau Derville wird alles andre denn gerührt sein.« Es entging ihm jedoch nicht, daß sie ein aufgeregtes Gesicht hatte.
Der Staatsanwalt hielt eine pathetische Rede in der üblichen schlechten Ausdrucksweise der Juristen. Er brandmarkte die Roheit des vorliegenden Verbrechens. Julian bemerkte, daß die Nachbarinnen von Frau Derville Gebärden des lebhaften Mißfallens machten. Dies bereitete ihm eine angenehme Empfindung. Bis dahin hatte er für alle Anwesenden ungemischte Verachtung gehegt. Der geistlose Wortschwall des Staatsanwalts hätte dieses Gefühl des Ekels noch vermehrt. Jetzt, angesichts der Zeichen von menschlicher Teilnahme, begann Julians Apathie langsam zu schwinden.
Die sichere Haltung seines Verteidigers befriedigte ihn. »Nur keine Phrasen!« rief er ihm leise zu, als er sich zu reden anschickte.
»Die hat man, nicht zu Ihrem Schaden, eben zur Genüge auf der andern Seite gehört«, gab der Anwalt zurück.
Kaum hatte er fünf Minuten gesprochen, als fast alle Frauen ihre Taschentücher in der Hand hatten. Hierdurch ermutigt, setzte er den Geschworenen tüchtig zu. Julian fieberte. Mit Mühe hielt er die Tränen zurück. »Himmel, was würden meine Feinde sagen!« dachte er.
Er wäre der in ihm aufwallenden Rührung beinahe erlegen, wenn er zu seinem Glücke nicht gerade einen unverschämten Blick Valenods aufgefangen hätte.
»Wie die Augen dieses Fuchses funkeln!« sagte er sich. »Seine Dreckseele triumphiert! Wenn meine Tat weiter nichts im Gefolge hätte als dies, dann müßte ich sie verfluchen ... Wer weiß, was er Frau von Rênal über mich berichten wird.«
Er begann darüber nachzugrübeln. Da rissen ihn die Beifallsbezeigungen des Publikums in die Wirklichkeit zurück. Der Verteidiger hatte eben seine Rede beendet. Julian erinnerte sich daran, daß es Sitte sei, dem Verteidiger die Hand zu drücken. Die Zeit war ihm mit Windeseile entflohen.
Man brachte dem Anwalt und dem Angeklagten einen Imbiß. Es fiel Julian auf, daß keine der Damen die entstehende Pause benutzte, um sich zum Essen wegzubegeben.
»Donnerwetter, ich bin halb verhungert!« meinte der Anwalt. »Und Sie?«
»Ich auch!« gab Julian zur Antwort.
Der Anwalt zeigte nach dem Balkon. »Da sehen Sie, die Frau Landrätin läßt sich auch etwas zu essen bringen! Nur Mut! Die Sache steht ausgezeichnet!«
Die Sitzung begann von neuem. Als der Vorsitzende sein Resümee vortrug, schlug es Mitternacht. Er mußte seine Rede unterbrechen. In der bangen Stille, die im ganzen Saale herrschte, bekamen die Glockenschläge einen unheimlichen Klang.
»Mein Jüngster Tag bricht an!« dachte Julian. Und der Gedanke an seine Pflicht durchloderte ihn. Bis jetzt hatte er jedwede Ergriffenheit gemeistert und seinen Vorsatz, nicht reden zu wollen, aufrechterhalten. Als ihn der Vorsitzende aber fragte, ob er noch etwas vorzubringen habe, da erhob er sich. Sein Blick fiel in die Augen von Frau Derville. Es war ihm, als leuchtete es in ihnen. »Sollte sie weinen?« fragte er sich und begann:
»Sehr geehrte Herren Geschworenen! Ich möchte mich nicht allgemein verabscheut sehen, obgleich ich angesichts des Todes auch dem trotzen zu können vermeine. Deshalb drängt es mich, das Wort zu ergreifen. Meine Herren, ich habe nicht die Ehre, Ihrer Gesellschaftsklasse anzugehören. Ich stehe vor Ihnen als ein Kind des Volkes, das sich gegen die Niedrigkeit seines Schicksals aufgelehnt hat...«
Festeren Tones fuhr er fort: »Ich bitte Sie nicht um Gnade. Ich mache mir durchaus keine Hoffnung. Der Tod harrt meiner, und dies von Rechts wegen. Ich habe mich am Leben einer Dame vergriffen, die der allgemeinen Hochachtung und Verehrung würdig ist. Frau von Rênal hat mich wie eine Mutter behandelt. Mein Verbrechen ist abscheulich. Es ist mit Vorbedacht geschehen. Somit habe ich den Tod verdient. Aber wenn meine Schuld auch nicht so groß wäre, so bin ich doch überzeugt, daß Sie, meine Herren Geschworenen, in meiner Jugend keinen mildernden Grund erblicken und mir nachsichtslos gegenüberstehen, weil Sie in meiner Person eine gewisse Kategorie von jungen Männern bestrafen und abschrecken wollen, die, in Niedrigkeit geboren und durch die Not niedergedrückt, das Glück oder Unglück haben, sich eine gute Bildung anzueignen, und die Kühnheit besitzen,
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