Rot und Schwarz
Ihr Leben lieb ist, so unterstehen Sie sich ja nicht, eine solch abscheuliche Lüge vorzubringen!«
Im Moment hatte der kluge Advokat Angst, erdrosselt zu werden. Es war übrigens die höchste Zeit, daß er die Verteidigung ausarbeitete, denn die Hauptverhandlung stand nahe bevor. Besançon und der ganze Kreis sprach von nichts als von diesem Sensationsprozeß. Julian wußte nichts davon. Er hatte darum gebeten, ihn mit Einzelheiten zu verschonen. Als ihm Fouqué und Mathilde gewisse merkwürdige Gerüchte mitteilen wollten, die ihrer Ansicht nach zu Hoffnungen berechtigten, ließ er sie gar nicht ausreden.
»Laßt mir mein Leben in der Idee !« sagte er zu ihnen. »Eure Maulwurfsinteressen, der Kleinkram des wirklichen Lebens sind mir mehr oder weniger widerlich. Das zerrt mich aus meinem Himmel. Jeder stirbt, so gut er kann. Ich habe meine eigene Anschauung vom Tode. Was geht mich die der anderen an? Habe ich doch mit den anderen urplötzlich nichts mehr zu tun. Tut mir den Gefallen und redet mir nicht mehr von den Leuten! Ich habe gerade genug, wenn ich den Richter und den Rechtsanwalt sehe.«
Bei sich selbst meinte er: »Eigentlich müßte ich meinen letzten Gang in Träumerei versunken gehen. Ein obskures Individuum wie ich, das die Gewißheit hat, binnen vierzehn Tagen gänzlich vergessen zu sein, ist zweifellos ein Narr, wenn es noch immer Komödie spielt ... Seltsam, daß ich die Kunst des Lebensgenusses erst jetzt begreife, wo so bald alles aus ist!«
Er verbrachte seine letzten Tage damit, im engen Dachhofe des Turmes spazierenzugehen und die ausgezeichneten Zigarren zu rauchen, die Mathilde durch einen Kurier hatte aus Holland kommen lassen. Dabei ahnte er nicht, daß sein Erseheinen tagtäglich von sämtlichen Fernrohren und Opernguckern der Stadt erwartet wurde. Seine Gedanken waren in Vergy. Aber niemals erwähnte er im Gespräche mit Fouqué Frau von Rênal. Ein paarmal vermeldete ihm sein Freund, daß sich der Zustand der Verwundeten rasch bessere. Solche Mitteilungen ließen Julians Herz höher schlagen.
Während seine Seele fast immer im Traumlande weilte, befaßte sich Mathilde, als Aristokratin, nur mit Tatsachen, mit der Wirklichkeit. Sie hatte es zwar zuwege gebracht, daß der Briefwechsel zwischen Frau von Fervaques und Herrn von Frilair derart vertraulich ward, daß bereits das Schlagwort Bistum gefallen war. Der ehrwürdige Prälat, dem die Pfründen oblagen, hatte auf eine der Bittschriften seiner Nichte die Randbemerkung gemacht: »Der arme Sorel hat kopflos gehandelt. Ich hoffe, er bleibt uns erhalten.« Beim Anblick dieser Zeilen war Frilair schier zu Tränen gerührt. Er zweifelte nicht mehr an der Rettung Julians. Am Tage, ehe die sechsunddreißig Geschworenen durch das Los bestimmt wurden, äußerte er sich zu Mathilde: »Wenn wir das Jakobinergesetz nicht hätten, das die Aufstellung endloser Geschworenenlisten vorschreibt und keinen andern Zweck hat, als den Leuten aus den guten Familien jeden Einfluß zu entziehen, so würde ich mich für den Ausfall des Urteils verbürgen. Ich habe seinerzeit den Pfarrer N*** auch freibekommen.«
Zu seiner Freude erfuhr Frilair am nächsten Abend, daß sich unter den Gewählten fünf Besançoner Mitglieder der Kongregation befanden. Von auswärtigen Anhängern waren Valenod, Moirod und Cholin darunter.
»Für diese acht Geschworenen stehe ich zunächst«, sagte er zu Mathilde. »Die fünf ersten sind Drahtpuppen. Valenod ist mein Agent. Moirod verdankt mir alles. Und Cholin ist ein Feigling.«
Durch die Zeitung erfuhr Frau von Rênal die Namen der Geschworenen. Zum unbeschreiblichen Schrecken ihres Mannes wollte sie sofort nach Besançon reisen. Herr von Rênal erreichte schließlich, daß sie im Bett verblieb, um der Unannehmlichkeit zu entgehen, vor dem Schwurgericht als Zeugin zu erscheinen.
»Du verstehst meine Lage nicht«, stellte ihr der ehemalige Bürgermeister vor. »Ich gelte zur Zeit allgemein als verbitterter Überläufer zu den Liberalen. Somit liegt es auf der Hand, daß mir dieser Lump, der Valenod, und ebenso Frilair, beim Staatsanwalt und bei den Richtern alle nur möglichen Mißhelligkeiten bereiten.«
Frau von Rênal fügte sich ohne Widerrede dem Ratschlage ihres Mannes. Sie sagte sich; »Wenn ich im Gerichtssaal erscheine, so sieht das am Ende aus, als sei ich rachgierig.«
Trotz ihres Versprechens und Vorsatzes schrieb sie eigenhändig an jeden der sechsunddreißig Geschworenen einen langen Brief, in dem unter
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