Rot und Schwarz
schöne Wetter zu sagen pflegt, kamen beiden nicht über die Lippen. Julian aber, dessen Hirn keineswegs durch Leidenschaft verwirrt war, fand sofort ein Mittel, Frau von Rênal zu zeigen, daß er an Freundschaft zwischen ihnen nicht recht glaube. Von der kleinen Reise, die er vorhatte, sagte er kein Wort. Er grüßte und ging.
Während sie ihm noch nachsah, niedergedrückt durch den düsteren Hochmut, der ihr aus seinem am Abend zuvor so liebenswerten Gesichte entgegengelodert war, kam ihr ältestes Söhnchen hinten aus dem Garten gelaufen, umschlang sie und berichtete ihr:
»Mutter, wir haben Ferien! Herr Julian verreist.«
Frau von Rênal stand das Herz still. Sie war tief unglücklich ob ihrer Tugendhaftigkeit und mehr noch ob ihrer Schwäche. Dies neue Ereignis nahm all ihr Denken in Beschlag. Die bedachtsamen Vorsätze, die sie in der vergangenen schrecklichen Nacht gefaßt, verflogen in alle vier Winde. Jetzt galt es nicht mehr, einem inniggeliebten Verliebten zu widerstehen. Sie sah sich in Gefahr, ihn auf ewig zu verlieren.
Sie mußte am Frühstück teilnehmen. Um ihr Herzeleid zu vollenden, redeten Herr von Rênal und Frau Derville fortgesetzt von Julians Abwesenheit. Er argwöhnte hinter der kategorischen Art, in der ihn Julian um Urlaub gebeten hatte, einen besonderen Anlaß:
»Ohne Zweifel hat dieser Bauernjunge das Angebot von irgend jemandem in der Tasche. Aber diesem Irgendjemand, und wäre es auch Valenod, wird wohl der Appetit vergehen, wenn er hört, daß er sich damit seine jährlichen Ausgaben um zweihundert Taler erhöht. Der Bursche wird sich gestern in Verrières eine Bedenkzeit von drei Tagen ausbedungen haben, und heute ist das Kerlchen in die Berge gelaufen, damit er mir nicht Rede und Antwort zu stehen braucht. Das ist auch ein Zeichen der Zeit, daß man sich die Unverschämtheiten eines ärmlichen Tagelöhners gefallen lassen muß!«
Frau von Rênal dachte bei sich: »Wenn schon mein Mann, der gar nicht weiß, wie tief er Julian verletzt hat, der Meinung ist, daß er uns verlassen wird: was soll ich dann erst glauben? Ach, es ist alles entschieden!«
Um wenigstens ungestört weinen zu können und Frau Dervilles Fragen zu entgehen, gab sie vor, heftige Kopfschmerzen zu haben, und legte sich zu Bett.
»So sind die Weiber!« polterte Herr von Rênal gewohntermaßen. »Ewig ist an diesen komplizierten Maschinen etwas nicht im Schwunge.« Spöttisch ging er von dannen.
Während Frau von Rênal alle Qualen der schrecklichen Leidenschaft erduldete, zu deren Opfer der Zufall sie gemacht hatte, wanderte Julian frohgemut durch die Schönheit der Gebirgslandschaft.
Der Weg führte quer über den langen Bergrücken im Norden von Vergy. Langsam ansteigend, kroch dieser Pfad durch den mächtigen Buchenwald in schier endlosen Zickzacks zum Kamm des Höhenzuges hinauf, der den nördlichen Hang des Doubstales bildet. Nach einigem Steigen blickte der Wanderer über die unbedeutenderen Erhebungen auf dem südlichen Flußufer hinweg bis weit hinein in die fruchtbaren Ebenen von Burgund und Beaujolais. Wenngleich das Gemüt des ehrgeizigen jungen Menschen für Naturschönheit wenig empfänglich war, so konnte er doch nicht umhin, von Zeit zu Zeit stehenzubleiben, um dem großartigen Fernblick Beachtung zu gönnen.
Endlich erreichte er den Gebirgskamm, den er auf einem Paß überschreiten mußte, um in das entlegene Tal zu kommen, in dem der Holzhändler Fouqué, sein Freund und Altersgenosse, wohnte. Julian beeilte sich durchaus nicht. Er spürte keine Sehnsucht, Menschen zu sehen. Auch den Freund nicht. Hockend wie ein Raubvogel zwischen den nackten Felsen, die den Gebirgszug langhin krönen, konnte er weithin jeden Menschen bemerken, der sich der Höhe genähert hätte. In der Mitte einer beinahe senkrecht emporragenden Felswand erspähte er eine kleine Höhle. Er kletterte hinauf.
»Hier können mir die Menschen nicht wehe tun!« rief er aus, und seine Augen leuchteten.
Er kam auf den Einfall, sich die Freude zu machen, seine Gedanken niederzuschreiben. Das war ihm andernorts zu gefährlich. Ein viereckiger Felsblock diente ihm als Pult. Sein Bleistift flog über das Blatt. Was um ihn war, sah und hörte er nicht. Endlich bemerkte er, daß die Sonne hinter den fernen Bergen von Beaujolais zur Rüste ging. Da fragte er sich: »Warum sollte ich nicht hier übernachten? Brot habe ich bei mir. Ich bin frei!«
Beim Klange dieses großen Wortes jubelte seine Seele. In seinem Heuchlertum hätte er
Weitere Kostenlose Bücher