Rot und Schwarz
sich selbst bei seinem Freunde Fouqué nicht frei gefühlt. Den Kopf auf beide Hände gestützt, lag er in seiner Höhle. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so glücklich gefühlt. Von Träumereien bewegt, schwelgte er selig in seiner Freiheit. Ohne daß er darauf achtete, erstarben allmählich die letzten Schimmer der Dämmerung. Im Schöße der ungeheuren Finsternis dichtete seine Phantasie an den Dingen, die er dermaleinst in Paris zu erleben sich ersehnte. Vor allem erstand in seiner Seele die Gestalt einer Frau, die viel schöner war und viel geistvoller als alle die Frauen, die er bisher zu sehen bekommen hatte. Er würde sie leidenschaftlich lieben und von ihr wieder geliebt werden. Er würde sich nur auf kurze Zeiten von ihr trennen und nur um Ruhm zu erringen und immer liebenswerter zu werden.
Ein junger Mann, mitten im grauen Alltag des Lebens und Treibens einer Großstadt aufgewachsen, wäre an dieser Stelle seines Traumdaseins, selbst wenn er Julians Einbildungskraft gehabt hätte, von Ironie ergriffen und ernüchtert worden. Der Drang nach großen Taten wäre zu nichts zerronnen vor der banalen Weisheit: »Lässest du deine Geliebte allein, beim Teufel, so riskierst du, daß sie dich zwei- bis dreimal täglich betrügt!« Der Bauernsohn Julian hingegen wähnte, ihm fehle zu Heldentaten nur die gute Gelegenheit.
Inzwischen war es stockfinstere Nacht geworden. Bis zu dem kleinen Dorf, in dem Fouqué hauste, hatte er noch zwei Stunden zu laufen. Ehe er die kleine Höhle verließ, machte er ein Feuer an und verbrannte sorgfältig alle seine Kritzeleien.
Sein Freund war höchst erstaunt, als Julian nachts ein Uhr an seine Tür klopfte. Fouqué war dabei, seine Geschäftsbücher nachzutragen. Er war überlang, nicht besonders wohlgestaltet, und hatte grobe, harte Züge, dazu eine Riesennase; aber in dieser abstoßenden Hülle barg sich viel Güte.
»Du hast dich wohl mit dem Bürgermeister überworfen, daß du hier so plötzlich hereinschneist?« fragte er.
Nicht ohne Vorbehalt erzählte Julian, was sich am Tage vorher zugetragen hatte.
»Bleibe bei mir!« schlug ihm Fouqué vor. »Du kennst Herrn von Rênal, Herrn Valenod, den Landrat Maugiron, den Pfarrer Chélan. Du kennst also die Eigenart der Leute unsrer Gegend und kannst mich bei den Versteigerungen vertreten. Das Rechnen verstehst du besser als ich. Du könntest mir die Bücher führen. Mein Handel geht vorzüglich. Ich werde allein nicht mehr fertig, aber ich habe Angst, einen Gauner zum Teilhaber zu bekommen. Deshalb muß ich manches schöne Geschäft schwimmen lassen. Vor vier Wochen habe ich dem Michaud aus Saint-Amand zweitausend Taler zu verdienen gegeben. Ich hatte ihn sechs Jahre nicht gesehen und traf ihn zufällig auf der Holzauktion in Pontarlier. Diese zweitausend Taler hättest du ebensogut einstecken können, oder wenigstens tausend. Wenn ich dich nämlich an jenem Tage bei mir gehabt, so hätte ich auf den ganzen Holzschlag feste geboten, und die andern hätten ihn mir bald gelassen. Werde mein Kompagnon!«
Dies Angebot verstimmte Julian und dämpfte seine tollen Ideen. Während des Nachtmahls, das sich die beiden Freunde gleich Helden Homers selbst bereiteten, weil Fouqué einsam lebte, bewies er Julian an der Hand seiner Geschäftsbücher, wie ertragreich sein Holzhandel war. Fouqué hielt ungemein viel von der Klugheit und Gewissenhaftigkeit seines Freundes.
Als Julian endlich allein in seiner bretterwandigen Dachkammer war, sagte er sich: »Wahrlich, hier könnte ich mir ein paar tausend Taler verdienen und später mit ihrer Hilfe den Beruf des Priesters oder den des Soldaten ergreifen, je nachdem, was dann in Frankreich gerade Mode ist. Das kleine Vermögen, das ich mir hier zusammenscharrte, würde mir dereinst manches kleine Hindernis aus dem Wege räumen. Auch hätte ich hier in den Bergen Muße genug, meiner grauenhaften Ignoranz in den Dingen, die die höhere Gesellschaft beschäftigen, ein wenig abzuhelfen. Fouqué will nicht heiraten, aber er klagt, daß ihn das Alleinsein unglücklich mache. Es ist also klar: wenn er sich einen Teilhaber nimmt, der ihm kein Kapital ins Geschäft bringt, so tut er dies in der Erwartung, daß ihn selbiger nie wieder verläßt...«
Mißmutig rief Julian aus: »Soll ich meinem Freund etwas vormachen?«
Und er, dem Heuchelei und purer Egoismus die Scheidemünzen waren, mit denen er jeden Schritt vorwärts bezahlte, fand seltsamerweise den Gedanken unerträglich, einen lieben
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