Rot und Schwarz
der Gedanke an die Moral und an die ihrem Manne geschworene eheliche Treue – Dinge, die sie noch in den letzten Tagen beunruhigt hatten –, alles das mahnte sie jetzt vergeblich. Das waren ungebetene Eindringlinge in ihr Glück, die sie verscheuchte. Eines jedoch gelobte sie sich: »Niemals werde ich Julian etwas zugestehen. Wir werden so weiterleben, wie wir es seit vier Wochen tun. Er soll mir ein Freund sein.«
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Vierzehntes Kapitel
Die englische Schere
Ein sechzehnjähriges Mädchen hatte eine Haut wie eine Rose und legte Rot auf.
Polidori
F ouqués Anerbieten hatte Julian aller Zufriedenheit beraubt, aber er kam zu keinem Entschluß.
»Ach, am Ende fehlt es mir an innerer Kraft!« klagte er sich an. »Ich hätte nicht das Zeug zu einem napoleonischen Soldaten gehabt ... Meinetwegen!« fügte er hinzu. »So soll mich meine Liebelei mit der Quartierwirtin ein wenig entschädigen!«
Zu seinem Glücke stand seine Seele keineswegs im Einklang mit dieser Landsknechtssprache, selbst in dieser nebensächlichen Episode nicht. Er empfand Scheu vor Frau von Rênal: vor ihrem hübschen Kleide. Das war ihm der Vorgeschmack des Pariser Lebens.
Hochmütig, wie er war, wollte er dem blinden Zufall und der Eingebung des Augenblicks nichts überlassen. Auf Grund der Geständnisse Fouqués und etwelcher Aphorismen aus seinem Lieblingsbuche, die ihm einfielen, entwarf er sich einen bis ins einzelne gehenden Feldzugsplan. Und da er, ohne es sich einzugestehen, nicht klar und sicher war, so schrieb er diesen Plan nieder.
Am nächsten Morgen fand er sich einen Augenblick im großen Zimmer allein mit Frau von Rênal.
»Haben Sie eigentlich noch einen andern Namen als Julian?« scherzte sie.
Er wußte auf diese schmeichelhafte Neckerei keine Antwort. Dergleichen war in seinem Kriegsplan nicht vorgesehen. Ohne diesen dummen Plan hätte er bei der Beweglichkeit seines Geistes gewiß sofort eine Erwiderung gefunden, und das Überraschende der Frage hätte sein Impromptu um so reizvoller gemacht. So aber war er unbeholfen, und im Spiegel der Selbstbetrachtung vergrößerte sich diese Unbeholfenheit noch. Frau von Rênal freilich verzieh sie ihm im Moment. Sie hielt sie für ein Kennzeichen seiner Aufrichtigkeit und war entzückt darüber. Offenherzigkeit, das war es, was diesem jungen Menschen, den man allgemein als sehr klug rühmte, ihrer Meinung nach fehlte. Auch Frau Derville hatte mehrmals gesagt: »Deinem kleinen Hauslehrer traue ich nicht über den Weg. Ich finde, er hat immer etwas zu überlegen und handelt nur aus Berechnung. Er ist heimtückisch.«
Julian war unglücklich und tief gedemütigt, daß er Frau von Rênal nicht zu antworten vermocht hatte. »Ein Mann meines Schlages«, sagte er sich, »muß diese Scharte wieder auswetzen!« Und er befahl sich, Frau von Rênal einen Kuß zu geben.
Als sie zusammen das Zimmer verließen, benutzte er diesen Augenblick. Es war der unpassendste Moment. Keins von beiden hatte eine angenehme Empfindung. Obendrein handelte er im höchsten Grade unvorsichtig. Es fehlte nicht viel, so hätte man den Vorfall gesehen. Frau von Rênal hielt Julian für toll. Sie war erschrocken und vor allem gekränkt. Valenod und seine alberne Verliebtheit kam ihr in den Sinn.
»Was stünde mir bevor, wenn ich einmal allein mit ihm wäre?« fragte sie sich. Sie gewann ihre ganze Tugendsamkeit wieder. Ihre Liebe war verflogen. Fortan richtete sie es ein, daß immer eins der Kinder bei ihr blieb.
Der Tag kam Julian langweilig vor. Er verbrachte ihn damit, seinen Verführungsplan in ungeschickter Weise zu verfolgen. Jedesmal, wenn er Frau von Rênal anblickte, hatte er eine Absicht dabei. Aber er war doch nicht Narr genug, um nicht einzusehen, daß es ihm nicht glückte, ein Herzenseroberer zu sein, geschweige denn ein Verführer.
Frau von Rênal staunte ein über das andre Mal, ihn so linkisch und dreist zugleich zu sehen. »Die täppische Verliebtheit des Gelehrten!« dachte sie zu guter Letzt und freute sich nun namenlos darüber. »Ich möchte beinahe glauben, daß meine Rivalin ihn nicht geliebt hat.«
Nach dem Frühstück ging Frau von Rênal in den Salon, um den Besuch des Herrn Charcot von Maugiron, des Landrats von Bray, zu empfangen. Sie arbeitete an einer Stickerei im Rahmen. Frau Derville saß neben ihr. Bei dieser Gruppierung, am hellichten Tage, fand es Julian für angebracht, seinen Fuß vorzurücken und Frau von Rênals hübschen Halbschuh zu berühren. Augenscheinlich hatten
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