Rot und Schwarz
den er entfachte, und an der Gewissensnot, die all die Liebesglut noch schürte, dachte er immerfort an die Pflicht . Er hegte Furcht vor der gräßlichen Reue und der ewigen Lächerlichkeit, deren Beute er werden würde, wenn er dem Vorbild, das er sich in seinen Träumereien erschaffen, nicht die Treue hielt. Mit einem Worte: gerade das, was Julian zu einem höheren Wesen machte, das ließ ihn nicht zum Genusse des Glückes kommen, das sich ihm darbot. Er machte es wie jene Sechzehnjährigen, die prächtige rote Wangen haben, aber geschminkt zum Balle gehen.
Bei Julians Erscheinen war Frau von Rênal zu Tode erschrocken. Die qualvollste Angst packte sie, und sein Schluchzen und seine Verzweiflung brachten sie vollends außer Fassung. Sogar als sie ihm nichts mehr zu versagen hatte, stieß sie Julian von sich, um ihn im nächsten Augenblick von neuem zu umarmen. Ihr Verhalten hatte keinen Sinn und Verstand. Sie glaubte sich ohne Gnade verdammt und suchte die Hölle zu vergessen, indem sie den Geliebten auf das zärtlichste liebkoste. Mit einem Worte: es fehlte zu Julians Glück nichts. Er war der Verführer einer empfindsamen Frau, die sich ihm in lodernder Sinnlichkeit ergab. Nur war er unfähig zu genießen.
Frau von Rênal hingegen schwelgte in Wollust, auch als Julian längst wieder weg war, so sehr sie sich dagegen wehrte und trotz der Gewissensbisse, die sie wild bestürmten.
Als Julian sein Zimmer betrat, war sein erster Gedanke der: »Mein Gott, glücklich sein und geliebt werden! Das ist's und weiter nichts?« Er befand sich in jenem Zustand der Verwunderung und Nervosität, in den der Mensch verfällt, wenn er etwas lange Ersehntes erreicht hat. Die Sehnsucht ist einem zur Gewohnheit geworden; sie fehlt mit einemmal, und die Erinnerung, die diese Leere ausfüllen könnte, ist noch nicht reif dazu.
Wie ein Soldat, der von der Parade nach Hause kommt, vergegenwärtigte sich Julian sein Verhalten bis in die Einzelheiten. »Habe ich nichts unterlassen, was ich zu tun mir schuldig war?« So fragte er sich.
»Habe ich meine Rolle gut gespielt? Die eines genialen Frauenverführers ?«
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Sechzehntes Kapitel
Tags darauf
He turn'd his lip to hers, and with his hand
Call'd back the tangles of her wandering hair.
Byron, Don Juan, I, 170
Z um Glück und Ruhme Julians hatte Frau von Rênal in ihrer ungeheuren Aufregung und Bestürzung gar nicht darauf geachtet, wie töricht sich der Mann benahm, der ihr mit einemmal der liebste aller Menschen geworden war. Als der Morgen dämmerte, bat sie ihn, zu gehen.
»O Gott«, flüsterte sie ihm zu, »wenn mein Mann etwas hört, bin ich verloren!«
Julian machte gemächlich die Bemerkung: »Würdest du bedauern, das Leben lassen zu sollen?«
»Ach, jetzt sehr! Aber nimmermehr würde ich es bereuen, dich an mein Herz gedrückt zu haben.«
Julian hielt es seiner Würde für angemessen, sie erst am hellen Morgen und ohne besondre Vorsicht zu verlassen. In seiner verrückten Idee, den Weltmann zu spielen, beobachtete er sich fortgesetzt und studierte sich bis in seine geringste Betätigung. Dies hatte nur den einen Vorteil, daß er sich beim Frühstück, als er Frau von Rênal wiedersah, meisterhaft klug benahm.
Sie hingegen vermochte Julian nicht anzuschauen, ohne jedesmal über und über rot zu werden. Und doch mußte sie ihn immer wieder anblicken. Sie ward sich ihrer Haltungslosigkeit bewußt, aber ihre Versuche, sich zu beherrschen, verwirrten sie nur noch mehr. Julian sah sie ein einziges Mal voll an. Zuerst bewunderte Frau von Rênal seine Vorsicht, bald aber, als sie merkte, daß er sich mit diesem einen Blick begnügte, wurde sie besorgt. »Liebt er mich nicht mehr?« fragte sie sich. »Ach ja, ich bin recht alt für ihn. Zehn Jahre älter als er!«
Als man vom Eßzimmer in den Garten ging, drückte sie Julian die Hand. In seiner Überraschung über diesen außergewöhnlichen Liebesbeweis blickte er sie verliebt an. Sie war ihm nämlich beim Frühstück ganz besonders hübsch erschienen. Mit geschlossenen Augen hatte er sie in nackter Schönheit wieder vor sich gesehen.
Sein zärtlicher Blick tröstete Frau von Rênal. Das befreite sie zwar nicht ganz von ihrer Besorgnis, aber was davon blieb, bewahrte sie so gut wie ganz vor dem Schuldgefühl ihrem Gatten gegenüber.
Der hatte nicht die leiseste Ahnung; aber auch Frau Derville nicht, die sich allerdings einbildete, ihre Freundin sei auf dem Wege zu unterliegen. Den ganzen Tag über machte sie ihr mit dem
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