Rot Weiß Tot
Jahren war es noch eine seiner besten Zukunftsperspektiven gewesen, einen Job wie dieser Junge zu machen. Er wusste nicht genau, wem oder was er es verdankte, dass er sich jetzt in einem Redakteurssessel zurücklehnen konnte. Er wusste nur. dass es mit Sarah zu tun hatte. Doch wer sich in seiner Rolle zu gefallen begann, hatte meistens schon verloren. Deshalb verscheuchte er diese Stimmung gleich wieder. »Vielen Dank«, sagte er zu dem Jungen, der längst weg war.
Albin dachte an den Toten, der jetzt wohl auf einem Obduktionstisch oder zerstückelt und wieder zusammengeflickt in einem Kühlfach lag. Die Gerichtsmediziner hatten sicher seine schwarzen Kleidung heruntergeschnitten und Brustkorb und Schädel geöffnet. Albin hatte gehört, dass bei männlichen Mordopfern zur Feststellung möglicher homosexueller Aktivitäten automatisch der Analbereich nach kleinen Wunden oder Narben untersucht wurde. Jetzt fragte er sich, wie der Mann mit dem teuren Schuhwerk das gefunden hätte. Hätte er sich geschockt abgewendet? Lieber nichts davon gehört? Eine zynische Bemerkung gemacht?
Sarah rief an. Sie klang nervös. »Dieser Mord geht mir nicht aus dem Kopf. Ich bin ständig müde und dabei aufgeregt. Der Anblick des Toten war weniger schrecklich als die Erinnerung an ihn.«
»Ich habe mich eben mit dem zuständigen Kriminalbeamten unterhalten. Der Mann heißt Bergmann. Er hört sich zynisch an. So sind die Beamten der Gewaltgruppen wohl alle. Ich glaube trotzdem, dass ich einen Draht zu ihm habe. Vielleicht kommt etwas dabei heraus.«
»Wenn jemand wie du eine Sache in die Hand nimmt, kommt immer irgendetwas dabei heraus.«
Ihr Vertrauen durchrieselte ihn als warme Welle. »Ich melde mich heute Abend.«
Sie legten auf.
Albin ließ im Archiv die Begriffe »Heidentor« und »Carnuntum« auf den Alarmfilter stellen. Das bedeutete, dass alle aktuellen Meldungen der Austria-Presse-Agentur mit einem dieser Worte automatisch auf den Bildschirm springen und ihm gebracht werden würden. Danach schielte er vorsichtig zum Stephansdom hinüber. Nein, dort hing jetzt kein Mensch mehr.
Kapitel 4
Das Domcafé lag gegenüber der Westseite des Stephansdomes im ersten Stock. Direkt gegenüber seinen Fenstern zierten links und rechts vom Domportal ein Penis und eine Vagina die Spitzen von zwei angedeuteten Doppelsäulen. Die ganze Kirche war in das freundliche Licht eines milden Herbstnachmittags getaucht. Im Eingang stand eine Sammelbüchse aus Plexiglas für die Erhaltung des Wiener Wahrzeichens, daneben hockte eine Bettlerin mit ihrem Kind, und in den Mauernischen der Domfassade kauerten die wie Schweine aussehenden Löwen, als hätten sie Angst vor all dem.
Albin hatte noch zehn Minuten Zeit. Am Haas-Haus vorbei spazierte er Richtung Graben. Er war nicht sicher, ob er Chefinspektor Damian Bergmann anhand des Zeitungsfotos erkennen würde. Notfalls würde ihm der suchende Blick den nötigen Hinweis liefern. Es gab wohl auch nicht viele Männer, die nachmittags allein im Domcafé saßen und nach Polizei rochen.
Die Gastgärten der Cafés am Graben waren gut besucht. Albin spazierte bis zur Pestsäule. Eiligere Passanten rempelten ihn an. Trotz der milden Witterung war den Wienern an diesem Tag nicht nach gemächlichem Flanieren zumute. Sie waren hektisch, als müssten sie im letzten Moment den spärlichen Rest von Sommer in sich aufsaugen.
Eine Minute vor vier Uhr trat Albin durch eine automatische Glastür gegenüber dem Dom. Eine weiße Kunststeintreppe mit braunen Teppichfliesen führte nach oben. In einem großen Wandspiegel sah er sich in seinem etwas zu weiten Sakko vorbeihuschen. Zweifelnd fragte er sich, ob so wie er Menschen aussahen, die sich an diskreten Orten zu geheimen Besprechungen mit Kriminalpolizisten trafen.
In dem Tortenetablissement mit dem Hauch von Wiederaufbauzeit sah sich Albin um. Vor allem ältere Damen mit pompösen Frisuren in Weiß oder Violett saßen an den Tischen. Sie tranken aus geblümtem Porzellan Kaffee mit Süßstoff und aßen dazu Eszterházy-Schnitten, Cremetörtchen oder Rehrücken mit Schlagobers. Etwa ein Drittel von ihnen hatte Pekinesen dabei. Alles geschah hier langsam, als wüssten Gäste und Ober, dass die Zeit an diesem Ort ohnedies vor fünf Jahrzehnten stehen geblieben war.
Bergmann sah er nicht. Das Zeitungsbild hatte einen älteren Mann erahnen lassen, der trotz des Zynismus in seinen Zügen vertrauenswürdig wirkte. Albin wollte schon an einem freien Tisch Platz
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