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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Entfernung wirkt er ohne sein Hemd drahtig und blass, bloß ein Junge mit einem blutroten Hengst an seiner Seite.
    »Mr Malvern«, sagt er förmlich, »möchten Sie Ihr Pferd gern selbst zurück zum Hof bringen?«
    Mutt starrt ihn bloß an.
    Während Sean Corr vom Strand führt, knülle ich immer wieder seine Jacke in meinen Händen zusammen. Ich kann die Wahrheit immer noch nicht begreifen. Dass ich noch vor zehn Minuten die Hand eines toten Mannes gehalten habe. Dass ich mich in wenigen Tagen an einem Strand voller Capaill Uisce befinden werde. Dass ich Sean Kendrick angeboten habe, seine Jacke für ihn zu waschen.
    »Verdammtes Stück Scheiße.«
    Ich drehe mich um. Es ist Daly.
    »Wie bitte?«, frage ich.
    »Scheiße«, sagt Daly wieder und ich erkenne darin die Hilflosigkeit,
    die die Menschen manchmal zum Fluchen bringt, wenn sie das Gefühl haben, eigentlich etwas anderes sagen zu müssen, aber nicht wissen, was. »Diese ganze Insel ist ein einziges Stück Scheiße.«
    Ich erwidere nichts. Darauf habe ich keine Antwort. Ich greife Seans Jacke fester, um meine zitternden Hände ruhig zu halten.
    »Ich will nach Hause«, sagt Daly niedergeschlagen zu mir. »Kein Rennen ist so was wert.«

43
    Sean Benjamin Malvern will sich mit mir im Hotel von Skarmouth treffen. Auch das gehört zu seinem Spiel, denn im Hotel wimmelt es zu dieser Jahreszeit von Menschen; jedes Zimmer ist an Touristen vermietet, die wegen des Rennens gekommen sind. So wie die Fleischerei der Treffpunkt für die Einheimischen ist, um Wetten abzuschließen oder Neuigkeiten auszutauschen, und sich auch die Reiter regelmäßig dort blicken lassen, versammeln sich die Leute vom Festland im Hotel, um ihre Notizen zu vergleichen, über das letzte Training zu fachsimpeln, sich den Kopf zu kratzen und zu spekulieren, ob diese Stute oder jener Hengst bis zum Rennen zahm genug sein wird, um ein ernst zu nehmender Teilnehmer zu sein. In der Hotellobby, wo unser Treffen stattfinden soll, auf Malvern zu warten, bedeutet für mich, von den Blicken der Touristen nur so verschlungen zu werden.
    Also trete ich aus der Kälte in die Lobby und durchquere so schnell wie möglich den Raum, bis ich ein ruhiges Treppenhaus finde, in dem ich warten kann. Wie es aussieht, führt die Treppe nur zu einem kleinen Teil der Gästezimmer hinauf, sodass meine Chancen gut stehen, nicht behelligt zu werden. Ich reibe mir über die Arme – es ist zugig hier drinnen – und spähe die Stufen hinauf. Das Hotel ist das größte Gebäude auf der ganzen Insel und in allen Einzelheiten darauf ausgerichtet, dass sich jemand vom Festland darin wohlfühlt. Darum besteht die Innenausstattung aus verzierten Säulen, schicken Deckenbögen, Friesen und poliertem Holz. Meine Füße stehen auf einem weichen Perserteppich. An der Wand neben mir prangt ein Bild von
    einem aufgezäumten Vollblut vor einer friedvollen Landschaft. Alles an diesem Hotel deutet darauf hin, dass seine Gäste Gentlemen und Intellektuelle sind, kultiviert und gut betucht.
    Ich spähe in die Lobby auf der Suche nach Malvern. Renntouristen stehen in Zweier- und Dreiergrüppchen zusammen, rauchen und diskutieren über das Training. Der Raum ist von ihren fremdartigen, breiten Akzenten erfüllt. Aus einem Saal jenseits der Lobby dringt Klaviermusik. Die Minuten ziehen sich hin.
    Die Tage zwischen dem Skorpio-Fest und dem Rennen sind ein eigenartiges Niemandsland. Die eingefleischtesten Fans des Rennens reisen schon für das Fest an, aber Skarmouth ist nicht groß genug, um ihnen lange Unterhaltung zu bieten. Also bleibt den Leuten bis zum Rennen nichts anderes übrig, als uns beim Leben und Sterben am Strand zuzusehen.
    Ich ziehe mich wieder in mein Treppenhaus zurück und verschränke die Arme gegen den kalten Luftzug. Meine Gedanken lassen sich nicht zähmen und gehen ihrer Wege, zurück zu dem Bild von Mutt Malvern auf Corr. Zu Corrs Schrei. Zu der leuchtend roten Locke auf Puck Connollys Wange.
    Ich habe das Gefühl, gefährliches Terrain zu betreten.
    Die Treppe über mir knarrt und Schritte bewegen sich zu mir herunter. Ich blicke gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie George Holly fröhlich die Treppe heruntergetrabt kommt, wie ein kleiner Junge. Als er mich sieht, zügelt er seine Ausgelassenheit und lehnt sich neben mir an die Wand, als sei er genau dorthin unterwegs gewesen.
    »Hallo und hallo«, sagt Holly zu mir. Er sieht aus, als habe er nicht geschlafen, als habe auch ihn der Sturm an den Strand geschwemmt,

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