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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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wo er sich zwischen Land und Meer entscheiden musste. Es ist ein seltsamer Gedanke, denn ich kann mir nicht vorstellen, was George Holly mit seiner Zeit anfängt, wenn er nicht gerade Pferde begutachtet. Wahrscheinlich irgendetwas Lautes, Ausgelassenes, irgendetwas, bei dem man einen weißen Pullover tragen kann. Merkwürdig, dass
    ich tatsächlich so etwas wie Freundschaft für jemanden empfinde, der so anders ist als ich.
    Ich nicke.
    »Und da ist es wieder, das Nicken«, sagt Holly. »Sie warten also auf Malvern, was?«
    Ich bin nicht überrascht, dass er Bescheid weiß. Die Neuigkeit, dass ich gekündigt habe, hat sich schnell wie eine Grippe auf der ganzen Insel verbreitet und ich bin mir ziemlich sicher, dass der Tratsch über Corrs morgendlichen Gewaltausbruch noch weniger lange gebraucht hat. Ich nicke wieder.
    »Und er trifft sich in diesem Treppenhaus mit Ihnen.«
    Ich werfe abermals einen Blick in die Lobby. Plötzlich wird mir bewusst, wie ungeduldig ich darauf warte, dass Malvern endlich kommt und sein Sprüchlein aufsagt, und doch gleichzeitig hoffe, dass er zu spät kommt, weil ich gar nicht wissen will, was er mir zu sagen hat. Ich balle meine Fäuste in den Armbeugen, aber die Kälte rührt von meinen angespannten Nerven her und nicht von außen.
    »Sie brauchen eine Jacke«, bemerkt Holly, dem meine verkrampfte Haltung nicht entgangen ist.
    »Ich habe eine Jacke. Eine blaue.«
    Holly grübelt eine Weile darüber nach. »Stimmt, ich erinnere mich. So dünn wie ein totes Kind, nicht?«
    »Genau die.« Und Puck Connolly hat sie in Gewahrsam genommen. Würde mich nicht wundern, wenn ich die Jacke nie wiedersehe.
    »Haben Sie sich jemals gefragt ...«, beginnt Holly nach einem Moment des Schweigens. »Nein, wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich wissen Sie es. Wenn es irgendjemand weiß, dann Sie. Seit ich hier bin, frage ich mich nämlich, woran es wohl liegt, dass die Capaill Uisce nur auf Thisby auftauchen und nirgendwo sonst.«
    »Weil wir sie lieben.«
    »Sean Kendrick, Sie sind ein weiser alter Mann. Rauchen Sie? Ich auch nicht. Obwohl es keinen Unterschied machen würde bei der Luft
    hier drin. Haben Sie jemals so viele Männer gesehen, die dermaßen damit beschäftigt sind, nichts zu tun? War das übrigens die ganze Antwort?«
    Ich zucke mit den Schultern und entgegne: »Die Pferde kommen schon auf die Insel, solange hier Menschen leben. Auf der anderen Seite von Thisby gibt es eine Höhle in den Klippen, in der ein roter Hengst an die Wand gemalt ist. Uralt. Wie lange muss man an einem Ort leben, um ihn sein Zuhause nennen zu können? Die Insel ist ihr Zuhause an Land.«
    Auf das Bild bin ich eines Tages während der Jagd nach einem Capaill gestoßen. Es war Ebbe und die Höhle führte so weit landeinwärts, dass ich das Gefühl hatte, ich müsste irgendwann auf der anderen Seite der Insel wieder herauskommen. Dann, plötzlich, kam so unerwartet und schnell die Flut hereingeströmt, dass ich in der Falle saß. Ich verbrachte Stunden zusammengekauert auf einem winzigen Vorsprung in einer düsteren Nische und jede einzelne Welle durchnässte mich aufs Neue. Unter mir hörte ich das entfernte Heulen und Schnalzen eines Wasserpferds irgendwo in der Höhle. Um nicht ins Wasser zu fallen, rollte ich mich schließlich auf den Rücken und dort, hoch über mir, an einer Stelle, die das Wasser nicht erreichen konnte, war sie: die Zeichnung. Ein Hengst von noch leuchtenderem Rot als Corr, die Farbe kaum verblasst, weil ihre Pigmente niemals dem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen waren. Zu den Füßen des Tiers war ein toter Mann gezeichnet, mit einem Wust von Schwarz als Haare und einer roten Linie als Brust.
    Die Skorpio-See hat schon Capaill Uisce an unsere Küsten gespült, lange bevor mein Vater und meines Vaters Vater auf der Welt waren.
    »Sind sie schon immer so verehrt worden? Hat man sie nie gegessen?«
    Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. »Würden Sie einen Hai essen?«
    »In Kalifornien tun wir das.«
    »Tja, dann ist das vielleicht der Grund, warum es in Kalifornien
    keine Capaill Uisce gibt.« Ich warte, bis er zu Ende gelacht hat, und füge dann hinzu: »Sie haben da Lippenstift an Ihrem Kragen.«
    »Der muss von einem der Pferde sein«, erwidert Holly, versucht dabei aber, einen Blick auf seinen Kragen zu werfen. Schließlich erspäht er den Rand des Flecks und beginnt, mit den Fingern darüber-zurubbeln. »Sie ist blind. Wollte eigentlich mein Ohr treffen.«
    Das erklärt zumindest sein

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