Rot wie das Meer
Mooneyham sagt: »Gabriel.« Denn natürlich weiß er sofort, von welchem Bruder ich rede.
Ein paar Minuten lang sagt er gar nichts und lässt mich einfach bloß weinen. Orangefarbenes und blaues Licht von den Buntglasfenstern
findet seinen Weg durch meine Hände, in denen ich mein Gesicht verberge. In der Kirche ist es sehr still. Schließlich wische ich mir mit dem Ärmel meiner Bluse über die Wange.
Der Vorhang bewegt sich und ich sehe Pfarrer Mooneyhams Hand, die mir ein Taschentuch hinhält. Ich trockne mir damit das Gesicht ab und seine Hand verschwindet wieder.
»Ich kann dir nichts von dem sagen, was er mir hier drin erzählt hat, Kate. Und ich weiß nicht, ob du dich besser fühlst, wenn du weißt, dass er auf demselben Platz gesessen hat wie du jetzt und ebenfalls geweint hat.«
Ich versuche mir vorzustellen, wie Gabe weint – ohne Erfolg. Selbst bei der Beerdigung unserer Eltern hat er trockenen Auges in das Loch im Boden gestarrt, zitternd im Wind, und Finn und mir seine Schultern geboten, um daran zu weinen. Trotzdem, die Vorstellung, wie er hier gesessen und geweint hat, stiehlt sich in meinen Kopf und ich spüre, wie ich etwas nachsichtiger mit ihm werde. Gleichzeitig ärgert es mich, dass dieser imaginäre Gabriel eine solche Wirkung auf mich hat. Ich sage: »Aber er muss ja nicht gehen.«
»Hmm. Ich will dir eine Sache verraten, die er gesagt hat, Kate. Er hat gesagt, du müsstest dieses Rennen nicht reiten.«
»Natürlich muss ich das! Wir brauchen das Geld!«
»Und das Rennen ist deine Antwort auf dieses Problem. Du meinst, dass du es so lösen kannst. Und Gabe hat auch ein Problem, das er meint, lösen zu können, indem er von hier fortgeht.«
Das ist eine schrecklich vernünftige Sichtweise der ganzen Sache und das ärgert mich. »Gehört es nicht zum Christsein dazu, sich um Witwen und Waisenkinder zu kümmern? Sollte er sich nicht um uns kümmern?« Doch noch während ich es sage, höre ich ihn wieder flüstern: Ich halte es einfach nicht mehr aus. Er hat sich um uns gekümmert. Nicht nur am Tag der tränenlosen Beerdigung, als er uns in unserer Trauer Halt gegeben hat, sondern auch danach, indem er bis spätabends an den Docks gearbeitet hat, um uns vor Malvern zu beschützen. Plötzlich komme ich mir furchtbar selbstsüchtig vor, weil
ich ihm seine Flucht nicht gönne. Ich seufze. »Aber warum muss er dafür fortgehen? Kann er nicht eine andere Lösung finden? Kann ich es ihm nicht ausreden?«
Pfarrer Mooneyham denkt darüber nach. »Fortzugehen bedeutet nicht, niemals wiederzukommen. Es könnte nicht schaden, wenn du einmal über das Gleichnis des verlorenen Sohnes nachdenken würdest.«
Dieser Ratschlag ist in etwa so tröstend wie ein kalter Backstein gegen die Einsamkeit. Ich schiebe Pfarrer Mooneyhams Taschentuch unter dem Vorhang hindurch, und als er es nimmt, werfe ich einen finsteren Blick zu dem Buntglasfenster über dem Altar hinauf. In dessen Mitte befinden sich dreizehn rote Scheiben und Mum oder irgendwer sonst hat mir einmal erzählt, dass sie Columbas Blutstropfen darstellen sollen. Er ist auf dieser Insel den Märtyrertod gestorben. Damals ahnten die Inselbewohner noch nichts davon, dass Beichte und Priester und Sünden etwas Gutes waren, also erstachen sie Columba und warfen ihn von einer der Klippen an der Westküste ins Meer. Eines Tages im Oktober trieb dann zusammen mit den Capaill Uisce seine Leiche an Land, und da sie selbst nach so langer Zeit im Meer nicht komplett entstellt und ekelhaft aussah, wurde er heiliggesprochen. Ich glaube, sein Kieferknochen wird noch immer hier hinter dem Altar aufbewahrt.
Das erinnert mich daran, wie Gabe, als er fünfzehn war, plötzlich beschloss, dass er Priester werden wollte. Zwei Wochen lang war er damals zu nichts zu gebrauchen. Es war Gabe, der mir die Geschichte von St. Columba erzählt hat; ich weiß noch, wie ich mit ihm in einer dieser Kirchenbänke gesessen habe. Er hatte sich das Haar mit Wasser zurückgekämmt, weil er meinte, dass ihm das zu einem heiligmäßigeren Erscheinungsbild verhelfen würde. Eine Welle von Sehnsucht erfasst mich bei dem Gedanken an diesen lächerlich ernsten Gabe und die vertrauensvolle und chronisch schlecht gelaunte Puck, die ich damals war.
»Wollen Sie mir keine Buße auferlegen, Herr Pfarrer?«, frage ich.
»Kate, dafür müsstest du mir erst einmal eine Sünde beichten.«
Ich denke zurück an die vergangene Woche. »Am Montag war ich kurz davor, den Namen des Herrn zu
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