Rot wie das Meer
klingt dünn. »Besser als nichts.« Dann ändert sich ihr Ton schlagartig. »Warum kommst du nicht heute zum Abendessen zu uns? Es gibt Bohnen oder irgendwas anderes unvergleichlich Delikates.«
Ich zögere. Mein Abendessen findet normalerweise im Stehen in meiner Wohnung statt, während die Tür offen steht und draußen der Stall darauf wartet, dass ich den Rest meiner Arbeit erledige. Nicht gesittet an einem Tisch, wo ich Worte und Antworten auf höfliche Fragen finden muss. Abendessen mit Puck und ihren Brüdern? Es sind nur noch wenige Tage bis zum Rennen. Ich muss meinen Sattel und meine Stiefel putzen. Ich muss meine Hose waschen und meine Handschuhe suchen für den Fall, dass es regnet oder der Wind eisig ist. Ich muss Corrs und Edanas Boxen ausmisten und tauschen. Ich
muss in die Fleischerei und sehen, ob es dort irgendetwas gibt, was Corr guttun würde.
»Schon in Ordnung«, winkt Puck ab. Es gelingt ihr rasch, ihre Enttäuschung zu verbergen. Wenn man nicht genau darauf achtet, hat sie sie weggewischt, bevor man überhaupt weiß, dass sie da war.
»Nein«, sage ich schnell. »Nein, ich ... denke drüber nach. Ich weiß nicht, ob ich mich loseisen kann.« Ich habe keine Ahnung, warum ich das sage. Ich kann mich nicht loseisen. Ich bin keine besonders angenehme Gesellschaft zum Abendessen. Doch das ist plötzlich nicht mehr wichtig. Stattdessen wünschte ich, ich hätte früher reagiert, bevor ich ihre Enttäuschung gesehen habe.
Aber Puck ist eine Meisterin darin, sich nichts anmerken zu lassen. »Wenn nicht, sehen wir uns morgen am Strand, ja?«
Wenigstens dessen bin ich mir sicher. Wenn man auf dem Rücken eines Pferds sitzt, ist es nicht schwer, sich sicher zu sein. »Ja.«
52
Puck Gabe bringt ein Hühnchen und Tommy Falk zum Abendessen mit nach Hause. Um ehrlich zu sein, freue ich mich über alle drei: über Gabe, weil es so lange her ist, dass wir mit ihm zusammen zu Abend gegessen haben, über das Hühnchen, weil es kein Teller Bohnen ist, und über Tommy Falk, weil Gabe in seiner Gegenwart immer fröhlich und ausgelassen ist. Sie werfen das gerupfte Hühnchen über meinem Kopf hin und her, bis es aus seiner Verpackung purzelt und ich es schimpfend vom Boden aufklauben muss.
»Wenn wir jetzt alle an der Pest sterben oder was sonst so auf diesem Boden kreucht und fleucht, ist das jedenfalls nicht meine Schuld!«, informiere ich sie. Ein Stück Schmutz klebt an der gummiartigen Haut des Huhns.
»Wasch es einfach ab. Ein bisschen Dreck im Essen hat noch niemandem geschadet«, verkündet Tommy Falk. »Gabe sagt, du machst ein verboten gutes Hühnchen.«
Finn, der vor dem Kamin hockt und jede Menge Rauch produziert, mischt sich zum ersten Mal ein. »Er meinte wohl eher, es gehört verboten.«
»Halt den Mund oder du kannst es selber machen.« Wie sich herausstellt, ist der Schmutz an dem Hühnchen das geringste meiner Probleme. Meine Hände sind völlig verdreckt. Es dauert eine ganze Weile, sie sauber zu bekommen, und selbst als sie zumindest wieder einigermaßen hell aussehen, riechen sie noch immer verdächtig nach Dove und auch nach Corr.
Gabe beugt sich über das Radio und versucht, einen der Musiksen-
der vom Festland einzustellen, was nur funktioniert, wenn das Wetter genau passend ist und man in der letzten Vollmondnacht ein Tieropfer gebracht hat. Mangels Radiounterhaltung trällert Tommy Falk ein paar Zeilen eines Lieds, das er vor dem Sturm im Radio gehört hat. Zum ersten Mal seit Monaten fühlt sich das Haus nicht leer an.
»Bands, Gabe«, sagt Tommy versonnen. Er hat sich neben Finn gesetzt und hilft ihm, den Rauch in Feuer zu verwandeln. Dann streckt er den Arm nach der Konzertina meines Vaters aus, die verlassen neben dem Sessel liegt. Er spielt dieselbe Melodie, die er gerade gesungen hat, aber auf der Konzertina klingt sie klagender. »Kannst du dir das vorstellen? Konzerte.«
Er redet vom Festland, natürlich. Denn nicht nur bis zum Rennen sind es nur noch wenige Tage.
»Und Autos«, fügt Gabe hinzu. »Und jeden Tag Orangen.«
»Und«, nickt Tommy, »Bands.«
Finn starrt ins Feuer.
Ich starre auf das Huhn.
»Nicht traurig sein«, sagt Tommy und springt auf, als er mein Gesicht sieht. »Das heißt doch nicht, dass wir nie zurückkommen. Und wir schicken euch auch Geld. Hast du Esther Quinns Klamotten gesehen, Puck? Ihr Bruder ist auch aufs Festland gegangen und verkauft da irgendwas an irgendwen und er schickt Geld nach Hause – darum sieht sie neuerdings aus, als
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