Rot wie das Meer
von den Wangen. Nach ein paar Minuten kommen mir Zweifel, ob ich mir das Geräusch nicht doch eingebildet habe.
Dann, plötzlich, der Geruch von Salzwasser und ich schrecke zusammen, als ich Gabe erkenne, der in meiner Zimmertür steht und zu mir hereinspäht. Ich betrachte die Linie seines Nackens, während er auf mich heruntersieht. Im Geiste flehe ich: Bitte, komm rein, wieder und wieder. Ich wünschte, er würde sich zu mir auf die Bettkante setzen, wie er es früher getan hat, als unsere Eltern noch lebten, und mich fragen, wie mein Tag war. Ich wünschte, er würde mir sagen, dass sich seine Pläne geändert haben und ich nicht reiten muss. Ich wünschte, er würde mir sagen, wo er so spät noch gewesen ist.
Am meisten aber wünschte ich, er würde reinkommen und sich zu mir setzen.
Er tut es nicht. Stattdessen stößt er immer wieder schweigend die Faust gegen den Türrahmen, als hätte ich irgendetwas getan, was ihn enttäuscht hat. Dann dreht er sich um und ich schlafe wieder ein, irgendwann. Aber ich träume nicht mehr von unserer Mutter.
Sean Die Malvern-Ställe bei Nacht sind ein gespenstischer Ort.
Obwohl ich schon seit siebzehn Stunden auf den Beinen bin und in weiteren fünf wieder aufstehen muss, wenn ich am Morgen den Strand für mich allein haben will, gehe ich nicht direkt hinauf in mein Zimmer. Stattdessen trödle ich noch eine Weile im zugigen Stall herum, schlendere durch die spärlich beleuchteten Gänge und vergewissere mich, dass die Stallburschen die Vollblüter und die Arbeitspferde anständig mit Futter und Wasser versorgt haben. Sie haben die meisten Boxen ausgemistet, aber jetzt, wo es auf November zugeht, trauen sie sich nicht mehr, auch die Boxen der wenigen Capaill Uisce zu betreten, noch nicht einmal, wenn ich mit den Wasserpferden unten am Strand war. Das dürfte zum einen an dem liegen, was man sich über die Wasserpferde erzählt, und zum anderen an dem, was man sich über diesen Stall erzählt. Was auch immer der Grund sein mag,
es bleiben drei unausgemistete Boxen und ich will nicht, dass die Ca-paill Uisce die ganze Nacht in ihrem Dreck stehen müssen. Als Cheftrainer sollte ich mit meiner Zeit zwar eigentlich Sinnvolleres anfangen, als Mist zu schippen, aber bevor ich es die beiden Angsthasen, die Malvern neu angestellt hat, schlecht machen lasse, erledige ich es lieber gleich selbst.
Und so mache ich mich, umgeben von den leisen, trägen Nachtgeräuschen der Pferde und den dunklen, wissenden Wänden des Stalls, an das Säubern der drei Boxen. Anschließend wische ich noch kurz über alle Oberflächen in der Futterkammer. Ich gebe den Wasserpferden ihr Fleisch, obwohl ich das Gefühl habe, dass sie zu unruhig zum Fressen sind. Und die ganze Zeit stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn dieser riesige Stall mir gehörte, wenn die Pferde, um die ich mich kümmere, unter meinem Namen verkauft würden und das anerkennende Nicken der Käufer, die sie Probe reiten, mir gelten würde statt Benjamin Malvern.
Die Malvern-Ställe sind in Wirklichkeit keine Malvern-Ställe, sondern ein Komplex von Steinhäusern, der schon Pferde beherbergte, lange bevor der Name Malvern auf der Insel auftauchte. Das einzige Gebäude in der Umgebung, das diesen hier etwas entgegenzusetzen hat, besonders dem Hauptstall, ist die St.-Columba-Kirche in Skarmouth. Die Ställe wurden mit derselben spirituellen Inbrunst errichtet. Die Decke ruht auf mächtigen Säulen, in deren Stein Bilder von Männern mit großen Augen gemeißelt sind, deren Hände die Füße anderer Männer tragen, deren Hände wiederum die Füße anderer Männer tragen, und immer so weiter, bis ganz oben schließlich Männer mit Pferdeköpfen stehen. Wie in der Kirche von Skarmouth wird die gewölbte Decke von steinernen Rippen gestützt und jede Fläche ist mit Bildern von Tieren mit kompliziert ineinander verschlungenen Gliedmaßen verziert. Auch an den Wänden und auf dem Boden finden sich an den seltsamsten Stellen kleine miteinander verwobene Gestalten: in der Ecke einer Box, mitten auf dem Boden, auf der linken Seite der Fenster. Männer mit Hufen anstelle von Händen, Frauen, die Pferde speien, und Hengste, denen anstelle von Mähne und Schweif Tentakel wachsen.
Das beeindruckendste Gemälde von allen erstreckt sich über die gesamte Wand an einem Ende des Hauptstalls. Es zeigt den Ozean und einen Mann – vielleicht irgendeinen längst vergessenen Meeresgott –, der ein Pferd ins Wasser hinabzerrt. Das Wasser hat die Farbe
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