Rot wie das Meer
laufen, auch wenn es gar nicht so ist.
»Zum Strand?«, wiederholt Finn. »Warum das denn?«
Der Gedanke, ihm zu antworten, macht mich genauso sauer wie die Antwort selbst, also ziehe ich das Regelblatt aus der Tasche meiner Wolljacke und reiche es ihm. Ich klappere noch einmal mit der Dose, während er das Blatt auseinanderfaltet, und versuche, nicht allzu sehr mit meinem Schicksal zu hadern, als er es liest. Es dauert eine ganze Weile, bis er bei der Regel ankommt, die seine Frage beantwortet. Ich weiß genau, wann er die Stelle erreicht, denn sein Mund wird plötzlich schmal. Als ich beschlossen habe, Dove bei dem Rennen zu reiten, dachte ich noch, ich könnte weit weg vom Strand mit ihr trainieren und nur für das Rennen mit ihr hinunter zum Wasser gehen. Aber laut dem Regelblatt, das Peg Gratton mir gegeben hat, ist das nicht erlaubt. Das Training darf nicht weiter als hundertfünfzig Meter von der Küste entfernt stattfinden. Strafe bei Zuwiderhandeln: Disqualifikation ohne Erstattung der Anmeldegebühr. Die Regel scheint einzig und allein zu dem Zweck aufgestellt worden zu sein, mir das Leben schwer zu machen, obwohl ich eigentlich weiß, dass es einen guten Grund für die Einschränkung gibt. Niemand will schließlich, dass die Wasserpferde auf der ganzen Insel ihr Unwesen treiben, schon gar nicht Anfang November.
»Vielleicht kannst du sie ja bitten, für dich eine Ausnahme zu machen«, sagt Finn.
»Ich will aber nicht, dass sie überhaupt erst auf mich aufmerksam werden«, entgegne ich. Wenn ich zur Rennleitung gehe und jetzt schon einen Riesenwirbel um Dove veranstalte, werde ich wahrscheinlich direkt disqualifiziert. In diesem Moment kommt mir mein Plan erschreckend dürftig vor. Und das alles für einen Bruder, der an
diesem Morgen schon aus dem Haus war, bevor wir auch nur aufgestanden waren.
Finn und ich zucken beide zusammen, als wir ein Auto die Straße zum Hof heraufkommen hören. Autos sind nie ein gutes Zeichen. Nicht viele Menschen auf der Insel besitzen eins und noch weniger haben einen Grund, uns hier draußen zu besuchen. Normalerweise sind die einzigen Leute, die jemals zu uns rauskommen, Männer, die uns, ohne auch nur den Hut abzunehmen, unbezahlte Rechnungen überreichen.
Finn, heldenhaft wie eh und je, verschwindet und lässt mich allein. An der Summe, die bezahlt werden muss, ändert das natürlich nichts, aber es ist weit weniger schmerzhaft, wenn man ihnen das Geld nicht selbst in die Hand zählen muss.
Doch es ist kein Schuldeneintreiber. Es ist ein langer, eleganter Wagen, in den unsere gesamte Küche hineingepasst hätte, mit einem schicken hohen Kühlergrill von der Größe einer Mülltonne. Das Auto hat runde, freundlich aussehende Scheinwerferaugen mit verchromten Brauen darüber; der Auspuff spuckt weiße Wölkchen aus, die um die Räder tanzen. Und es ist rot – nicht so rot wie das Pferd, das ich gestern am Strand gesehen habe, sondern so, wie es sich nur Menschen ausdenken können. Bonbonrot. Ein Rot, das man gern kosten oder mit dem man sich die Lippen schminken würde.
Rot, wie Pfarrer Mooneyham oft bekümmert feststellt, wie die Sünde.
Ich kenne das Auto. Offiziell gehört es der St.-Columba-Gemeinde. Ein wohlmeinendes Mitglied, das ursprünglich vom Festland stammte und im Meer bei Skarmouth irgendeine Art spiritueller Bekehrung erfahren hat, hat es Pfarrer Mooneyham für seine Hausbesuche geschenkt. Und Pfarrer Mooneyham benutzt das Auto wirklich, um kreuz und quer über die Insel zu fahren, für Letzte Ölungen, Taufen und hier und da einen Segen zwischendurch. Allerdings ist sein fester Platz auf dem Beifahrersitz. Wenn er niemanden findet, der ihn fährt, nimmt er wie vorher sein Fahrrad, obwohl er mittlerweile uralt ist.
Jetzt tut es mir fast leid, dass Finn ins Haus geflohen ist, bestimmt hätte er sich über das schicke rote Auto des Priesters gefreut. Ich rede mir ein, dass es ihm nur recht geschieht, weil er ein solcher Feigling ist.
Bevor ich mich fragen kann, was Pfarrer Mooneyham hier draußen bei uns will, geht die Fahrertür auf und Peg Gratton steigt aus. Ihre Füße sind mit dicken grünen Gummistiefeln bewehrt, denen unser Matsch nichts anhaben kann. Ich sehe Pfarrer Mooneyham auf dem Beifahrersitz ein besorgtes Gesicht machen, aber er bleibt im Wagen sitzen. Offenbar ist es Peg, die mir etwas zu sagen hat, und das ist ein ziemlich beunruhigender Gedanke.
»Puck«, sagt sie. Ihr kurzes Haar ist lockig und rot – nicht so wie das Auto und
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