Rot wie das Meer
zu einem neuen Zopf; aus dem ersten hatten sich schon wieder zwei bis drei Dutzend Strähnen gelöst.
Wahrscheinlich sehe ich auch nicht gerade aus wie ein Jockey.
15
Sean Am Strand ist ein Mädchen.
Anders als auf dem Rest der Insel hat der Wind den Nebel hier unten am Wasser in Fetzen gerissen, sodass die Pferde und ihre Reiter sich scharf vor dem sandigen Hintergrund abzeichnen. Ich kann jede einzelne Schnalle an ihrem Zaumzeug sehen, die bunten Quasten an jedem Zügel, das Zittern jeder Hand. Es ist der zweite Trainingstag und der erste, an dem das Ganze kein Spiel mehr ist. Die erste Trainingswoche ist wie ein komplizierter, blutiger Tanz, bei dem die Tänzer erforschen, wie stark ihre Partner sind. In dieser Woche finden die Reiter heraus, ob ihre kleinen Zaubermittel bei den Pferden wirken, wie nah am Wasser zu nah ist, wie sie ihre Tiere dazu bringen, in einer geraden Linie zu galoppieren. Wie viel Zeit ihnen nach einem Sturz vom Pferd bleibt, bis sie angegriffen werden. Diese nervöse Annäherung aneinander hat auf den ersten Blick nicht viel mit einem Rennen zu tun.
Zunächst fällt mir nichts Ungewöhnliches auf. Ich sehe den überlebenden Privett-Bruder, der seinen Capall -Schimmel mit einer Gerte traktiert, und Hale beim Verkauf seiner Zaubermittelchen, die niemanden retten, und Tommy Falk, der die Füße in den Sand stemmt, während die schwarze Stute am anderen Ende seines Führstricks immer wieder auf das Salzwasser zudriftet.
Dann entdecke ich das Mädchen. Als ich sie und ihren Falben zum ersten Mal von meinem Aussichtspunkt auf den Klippen aus sehe, ist es jedoch nicht ihr Geschlecht, das mich aufmerken lässt, sondern die Tatsache, dass sie durchs Wasser reitet. Dies ist der gefürchtete zweite
Tag, der Tag, an dem die ersten Leute sterben, niemand wagt sich an diesem Tag freiwillig in die Reichweite der Wellen. Sie aber trabt seelenruhig durch die Brandung, weit hinten am anderen Ende der Bucht, ihr Pferd bis zu den Knien im schäumenden Wasser. Furchtlos.
Ich mache mich langsam auf den Weg zum Strand hinunter. Der Trab am frühen Morgen hat Corr jegliche bösen Absichten, die er vielleicht gehegt haben mag, gründlich ausgetrieben. Die zwei Stuten aber sind weder so müde noch so zahm wie Corr. Ihre Hufe geben bei jedem nervös tänzelnden Schritt ein Klingeln von sich; ich habe ihnen Glöckchen um die Fesseln gebunden, die mich unaufhörlich daran erinnern, dass ich wachsam sein muss. Der wilderen der beiden Stuten habe ich eine schwarze Decke übergelegt, ein Erbstück meines Vaters. In den Stoff sind Hunderte von winzigen eisernen Ösen eingewebt: halb Trauerflor, halb Kettenhemd. Ich hoffe, sie hält sie am Boden. Bei Corr würde ich niemals zu solchen Mitteln greifen – sie würden ihn reizbar und unsicher machen, außerdem kennen wir zwei uns für so etwas viel zu lange.
Jetzt, näher am Wasser, kann ich sehen, was hinter dem Mut des Mädchens steckt. Sie reitet ein einfaches Inselpony mit sandfarbenem Fell und so schwarzen Beinen, dass es wirkt, als wären sie von einer Schicht Algen überzogen. Am Bauch der Stute erkenne ich, dass das nährstoffarme Thisby-Gras sie mehr stopft als nährt.
Ich will wissen, was die beiden an meinem Strand zu suchen haben. Und ich will wissen, warum niemand sie wegschickt. Denn die anderen Pferde sind sich ihrer Anwesenheit äußerst bewusst. Das verraten mir die aufgestellten Ohren, gewölbten Hälse und zurückgezogenen Lippen, wann immer sie in ihre Richtung blicken. Und natürlich ist auch die Scheckstute darunter, die ihren Hunger und ihr Verlangen in den Wind hinausheult. Ich hätte wissen müssen, dass Gorry sie nicht freilässt.
Beim Schrei des gescheckten Capaill legt die Falbstute ängstlich die Ohren an. Sie weiß, dass sie hier als Mahlzeit gesehen wird und dass
die Gescheckte ihren Tod fordert. Das Mädchen beugt sich vor und klopft ihrem Pferd beruhigend auf den Hals.
Widerstrebend wende ich mich meinem Training zu. Ich schmecke Salz und der Wind folgt uns, wohin ich die Pferde auch führe. Heute ist einer dieser Tage, an denen einem nie wirklich warm wird. Nach einer Weile finde ich eine Spalte zwischen den Klippen, eine Kerbe wie mit einer riesigen Axt geschlagen, und führe die Stuten und Corr hinein. Am oberen Rand der Felswände erzeugt der Wind ein ersticktes Heulen, als läge dort jemand im Sterben. Ich zeichne einen Kreis in den Sand und spucke hinein.
Corr beobachtet mich. Die Stuten beobachten das Meer. Ich beobachte
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