Rot wie das Meer
darauf kehrt meine Sehkraft mit einer Woge von Lärm zurück und mit ihr das Gefühl in meinen Körper. Ich spüre die Hand des Mädchens, die meinen Kopf über Wasser zieht, und das Brennen des Ozeans in der Nase. Von dem weißen Capaill ist nur noch die Mähne zu sehen, die auf der Wasseroberfläche treibt, während die Brandung seinen Kadaver in Richtung Strand trägt. Das Pony steht im Sand und wiehert nach dem Mädchen, ein schriller, verängstigter Laut. Blut
färbt das Wasser rot und auch den Sand, wo der Mann seine Finger verloren hat. Am Strand rufen sie noch immer meinen Namen, aber ich weiß nicht, ob sie meine Hilfe fordern oder Hilfe für mich. Das Mädchen würgt, doch es kommt kein Wasser. Sie zittert, aber ihr Blick ist grimmig.
Ich habe eines der wunderschönen, grausamen Capaill Uisce getötet, die ich so sehr liebe, und wäre fast selbst dabei gestorben. Zorn wallt durch meine Adern wie ein plötzlicher Fieberschub, doch alles, was ich zu dem Mädchen sagen kann, ist: »Halt dich mit deinem Pony vom Strand fern.«
16
Puck Ich zittere und huste noch immer, als wir unseren Hof erreichen. Dove scheut vor jedem Schatten, ihre Bewegungen sind so abgehackt wie die einer Marionette. Selbst das Geräusch des Gatters, das sich hinter ihr schließt, lässt sie einen steifbeinigen Satz auf ihre Koppel machen. Ich kann von Glück reden, dass sie nicht lahmt.
Ich schließe die Augen. Ich kann von Glück reden, dass sie nicht tot ist.
Der Hengst hat nur Sekunden gebraucht, um uns zu überwältigen, und bereits einen Moment später wäre ich für immer unter Wasser geblieben.
Ich lehne mich an das Gatter und warte darauf, dass Dove sich beruhigt und ihr Heu knabbert – was sie nicht tut –, bis mir in meinen nassen Sachen einfach zu kalt wird. Drinnen schäle ich mir die triefenden Schichten vom Körper und ersetze sie durch trockene, aber ich friere immer noch erbärmlich.
Sie hätte sterben können.
In der Küche esse ich eine ganze Orange und ein Stück Brot mit einer ordentlichen Portion von unserer kostbaren Butter. Orangen sind so teuer, dass ich mich normalerweise an Mums Methoden halte, von jeder Frucht so viel wie möglich zu nutzen. Aus ein paar Orangen hätte Mum einen Orangenkuchen gebacken, Butter oder Zuckerguss aromatisiert und aus dem Rest Marmelade gekocht. Wenn wir eine Orange nur als Orange essen, teilen wir sie eigentlich immer gerecht unter uns auf.
Jetzt aber verschlinge ich sie ganz, und als ich schließlich beim letz-
ten Stück angelangt bin, hat das Zittern aufgehört. Mein Kopf pocht immer noch dumpf vor sich hin an der Stelle, wo mich der Huf des Capaill Uisce getroffen hat.
Ich sauge an meinem Zeigefinger, um auch noch das letzte bisschen Orangenaroma zu erwischen, aber ich schmecke bloß das Salz des Meeres, was mich noch gereizter macht. Mein erster Tag mit Dove am Strand – und alles, was er mir eingebracht hat, ist Sand in jedem Winkel meines Körpers und ein Tritt gegen den Kopf.
Ich habe nicht mal einen Tag durchgehalten, ohne gerettet werden zu müssen.
Ich versuche, Sean Kendrick aus meinen Gedanken zu verbannen, aber mein Gedächtnis beschwört immer wieder seine scharfen Gesichtszüge herauf und den Klang seiner Stimme, kratzig vom Meerwasser. Und jedes Mal, wenn ich den Moment Revue passieren lasse, spüre ich, wie ich vor Scham feuerrot anlaufe.
Ich fahre mir mit der Hand über die Stirn, die ganz rau ist von kristallisiertem Salz, und stoße einen tiefen, zittrigen Seufzer aus.
Halt dich mit deinem Pony vom Strand fern.
Ich will aufgeben. Ich tue das alles nur, um Gabriel ein paar Wochen länger auf der Insel zu halten. Und mit welchem Ergebnis? Seit ich ihm eröffnet habe, dass ich das Rennen reite, habe ich ihn kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Plötzlich kommt mir mein Plan absolut hirnrissig vor. Da mache ich mich vor der ganzen Insel lächerlich und riskiere Doves und meinen Hals, und das alles für einen Bruder, der es trotzdem nicht für nötig hält, sich mal zu Hause blicken zu lassen?
Der Gedanke, einfach alles hinzuwerfen, ist verlockend und unerträglich zugleich. Die Aussicht, zurück an den Strand zu müssen, erfüllt mich mit Entsetzen. Aber ich werde auch nicht Gabe gegenübertreten und ihm sagen, dass ich es mir anders überlegt habe. Kaum zu glauben, dass ich noch so viel Stolz übrig habe, aber so ist es.
Es klopft an der Tür. Ich habe keine Zeit, etwas mit meinem Haar
anzustellen, außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass
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