Rot wie das Meer
sind wir noch immer zu keiner Einigung gekommen, aber wir haben keine Zeit mehr und so marschieren wir los – ich führe Dove am Zügel und Finn trottet hinterher. Puffin, die Katze, folgt uns eine Weile, obwohl Finn sie immer wieder wegzuscheuchen versucht, aber das scheint ihre Entschlossenheit, uns nicht von der Seite zu weichen, nur noch zu vergrößern.
Auf halber Strecke in die Stadt riecht der Wind plötzlich nach vergammeltem Fleisch und Finn und ich wechseln einen Blick. Unangenehme Gerüche sind auf der Insel keine Seltenheit – Stürme schwemmen immer mal wieder große Fische an Land, die dann am Strand verwesen, an warmen Tagen beginnt der Fang der Fischer zu stinken und manchmal verteilt ein tückischer Abendwind den Geruch nach Salz und Algen auf der ganzen Insel –, aber das hier ist kein normaler Seegeruch. Irgendetwas ist gestorben, was nicht hätte sterben sollen, und ist dann liegen geblieben, wo es nicht hätte liegen bleiben sollen.
Ich will ungern anhalten, aber es könnte schließlich ein Mensch sein, also reiche ich Finn Doves Zügel und klettere über die Steinmauer dem Geruch entgegen.
Der Wind, dem es irgendwie gelingt, durch den Nebel zu dringen, ohne ihn fortzuwehen, peitscht mir geradewegs ins Gesicht und ich krümme mich vor Kälte zusammen, während ich versuche, nicht in Schafskot zu treten. Die ganze Zeit wünsche ich mir, ich hätte Finn auf die Suche nach dem Ursprung des Gestanks schicken können, aber leider ist er, was Blut angeht, furchtbar empfindlich und absolut keine Hilfe. Also bleibt mir das Vergnügen vorbehalten, den Haufen von Gliedmaßen zu entdecken, der wohl mal ein Schaf gewesen ist. Es ist nicht viel von ihm übrig, bis auf die Hufe, ein Stück von seinem kurzen Schwanz, einen Klumpen Eingeweide, von denen der Gestank herrührt, und seinen wolligen Schädel, der rund um die eine Augenhöhle zerdellt und eingedrückt wirkt. Die Wolle in seinem Nacken ist mit blauer Farbe markiert, was bedeutet, dass es zu Hammonds Herde gehört hat. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, obwohl ich nicht glaube, dass das Capaill Uisce, dem das hier zuzuschreiben ist, noch in der Nähe ist. Trotzdem – dass die Pferde so weit ins Inselinnere kommen, ist ungewöhnlich.
Ich gehe zurück zu Finn und Dove. Sie spielen ein Spiel, das darin zu bestehen scheint, dass er ihr auf die Oberlippe tippt und Dove ihn verbiestert anstarrt. Finn blickt hoch.
»Schaf«, informiere ich ihn.
»Ich hab gleich gewusst, dass es ein Schaf ist«, sagt er.
»Vielleicht kannst du deine unermessliche Weisheit ja das nächste Mal mit mir teilen, bevor ich durch den Matsch latsche«, zische ich ihm zu.
»Du hast nicht gefragt.«
Schließlich machen wir uns wieder auf den Weg Richtung Skar-mouth.
Wir müssen zu Dory Mauds Laden, der aus mir unerfindlichen Gründen Fathom & Sons heißt, denn Dory hat keine Söhne und auch
keinen Mann. Sie lebt mit ihren zwei Schwestern zusammen, von denen ebenfalls keine Fathom heißt oder Söhne hat, und sammelt das ganze Jahr über Sachen, die sie im Oktober und November an die Touristen verkauft. Als Kind hat mich an Dory am meisten fasziniert, dass sie jeden Tag ein anderes Paar Schuhe trägt, was für hiesige Verhältnisse ziemlich ungewöhnlich und extravagant ist. Was mich heute am meisten fasziniert, ist, dass sie und ihre Schwestern keinen Nachnamen haben, was so ziemlich überall ungewöhnlich und extravagant sein dürfte.
Fathom & Sons liegt am Ende einer kleinen Seitenstraße in Skar-mouth, einer mit Steinen gepflasterten Gasse, die gerade breit genug für Dove und ihren Karren ist. Weder Nebel noch Sonne finden jemals den Weg in dieses Gässchen und wir bibbern vor Kälte, als Doves Hufschläge über die Steine klappern und von den Hauswänden widerhallen.
Ein paar Türen weiter steht Jonathan Carroll im blauen morgendlichen Schatten und wirft einem Collie kleine Leckerchen zu. Die Car-roll-Brüder haben beide dunkle Locken, aber einer von ihnen hat einen Klumpen Pudding als Gehirn und der andere hat einen Klumpen Pudding als Lunge. Einmal, als wir mit Mum in der Stadt waren, haben wir Brian, den mit der Puddinglunge, in der Nähe des Kais auf dem Boden kauern sehen, wo er keuchend um Atem rang. Mum riet ihm, erst die gebrauchte Luft auszuatmen, bevor er neue einzuatmen versuchte, und trug mir schließlich auf, bei ihm zu bleiben, während sie losging, um ihm einen schwarzen Kaffee zu besorgen. Ich war ziemlich sauer, weil sie mir eine Zimtschnecke
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