Rot wie das Meer
dunkel. Wie wär's, wenn wir deine Pferde kurz laufen lassen?«
Mutt wendet Sweeter, ohne ein Wort zu sagen.
Die Galoppbahn ist fast eine Meile lang und pfeilgerade. Die Pferde sprühen vor Energie, als sie die Bahn betreten, denn sie wissen, was kommt. Ich spüre Mutts Blick auf mir, und als ich ihn erwidere, sehe ich, wie sein Mund zuckt. Das hier sollte eigentlich kein Rennen zwischen Miracle und Sweeter werden, aber mir ist klar, dass nun kein Weg mehr daran vorbeiführt.
Sweeter schießt voraus. Miracle stürmt ihr hinterher, als ich die Zügel lockere. Wir galoppieren über die blassgelbe Bahn, über deren Oberfläche sich blaue Schatten ziehen. Der Wind pfeift mir um die Ohren, kalt und schmerzhaft. Die Schatten sind so dunkel, dass beide Stuten sie für stoffliche Dinge halten und die Beine heben, um über unsichtbare Hürden zu springen.
Mutt wirft einen Blick über die Schulter, um zu sehen, wie weit ich bin, aber die Mühe hätte er sich nicht machen müssen. Wir sind direkt neben ihm. Schulter an Schulter sprengen die Pferde die Bahn hinunter. Was die Schnelligkeit angeht, weiß ich, dass die Stuten ei-
nander ebenbürtig sind, aber ich weiß auch, dass die Schnelligkeit des Pferdes bei einem Rennen nur die halbe Miete ist. Ich bin diese Bahn schon Hunderte Male mit Hunderten von Pferden geritten und ich weiß, wo die leichte Steigung beginnt, ich weiß, wo der Boden in der Nähe des Zauns matschig wird, und ich weiß, an welcher Stelle die Pferde abgelenkt sind und den an der Straße geparkten Traktor beäugen. Ich weiß alles, was es über Miracle zu wissen gibt – dass sie dazu neigt, sich zu sehr zu verausgaben, wenn man sie nicht zurückhält, wie sehr ich sie antreiben muss, damit sie auf der Steigung nicht nachlässt, dass ich sie nur ganz kurz mit der Gerte antippen muss, damit sie sich weiter auf ihre Aufgabe konzentriert und nicht auf den Traktor.
Alles, was Mutt weiß, ist, wie heftig er auf sein Pferd einprügeln kann, während er verliert.
Ich weiß, ich sollte Miracle zügeln. Ich weiß, ich sollte Mutt und Sweeter gewinnen lassen.
Ich spüre die Blicke der Käufer auf mir.
Ich lehne mich nach vorn und flüstere Miracle etwas zu. Ihr Ohr zuckt in meine Richtung und ich lockere die Zügel.
Sweeter hat nicht den Hauch einer Chance.
Schon ist Mircacle ihr um eine Pferdelänge voraus, dann zwei, dann drei, vier, ohne auch nur schwer zu atmen. Sweeters Hufe sacken in den feuchten Boden am Zaun, sie wird langsamer, unkonzentriert.
In meinen Steigbügeln stehend, drehe ich mich um und hebe grüßend meine Gerte in Mutts Richtung.
Ich weiß, dass ich ein gefährliches Spiel spiele.
»Kein Jockey, was?«, lacht Holly, als ich Miracle zurück auf den Hof führe.
»Nur ein Pferdenarr«, entgegne ich.
26
Puck Sean Kendrick wollte, dass wir uns oben auf der Klippe über Fell Cove treffen, doch als ich dort ankomme, ist er nirgends zu sehen.
Die Klippen sind nicht so hoch wie die über dem Strand, an dem das Rennen stattfindet, und auch nicht so makellos weiß. Die Landschaft um diese Bucht wirkt bizarr und wenig einladend, und als Dove und ich endlich den schmalen, holprigen Pfad zum Strand hinter uns gebracht haben, stelle ich fest, dass er sich nicht gut zum Reiten eignet. Der Boden ist felsig und uneben und die See ist unangenehm nah. Im Moment herrscht Ebbe und trotzdem reichen die Felsen gerade mal fünf Meter weit ins Wasser, bis die Brandung sich ungestüm dagegenwirft. Vor genau so einem Ort hat man uns immer gewarnt, denn hier könnte jederzeit ein Pferd aus dem Ozean auftauchen und mit uns wieder darin verschwinden, bevor auch nur eine Welle an den Strand gerollt wäre und sich wieder zurückgezogen hätte.
Plötzlich frage ich mich, ob Sean Kendrick sich nur einen Scherz mit mir erlaubt hat.
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, ob er so etwas tun würde, und wirklich sauer auf ihn werde, höre ich Hufschläge. Zuerst kann ich die Richtung nicht einordnen, dann aber wird mir klar, dass das Geräusch von oben kommt. Ich lege den Kopf in den Nacken und blicke hinauf.
Ein einzelnes Pferd prescht im gestreckten Galopp am Rand der Klippe entlang und wirbelt dabei mit den Hufen kleine Erdklumpen auf. Ich erkenne das Pferd und eine Sekunde später den Reiter – Sean
Kendrick, tief über den Hals des Hengstes gebeugt, als wäre er mit ihm verwachsen. Als das blutrote Capaill Uisce über mir vorbeigaloppiert, sehe ich, dass Sean ohne Sattel reitet, was das Gefährlichste
Weitere Kostenlose Bücher