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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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würde.«
    »Jonathan.« Brians Stimme klingt warnend. Als ob es mich interessieren würde, auf wen sein Bruder wettet.
    »Oder Ian Privett«, quasselt Jonathan weiter. »Der hat diesen verflucht schnellen Schimmel vom letzten Jahr.« Er trommelt einen Skorpio-Rhythmus auf Finns Rückenlehne und beugt sich dann zu mir vor. »Im Pub schließen sie die verrücktesten Wetten auf dich ab. Ob du heute Abend bei der Parade dabei bist. Gerry Old meint, du wärst seit Tagen nicht mehr am Strand aufgetaucht und hättest wahrscheinlich aufgegeben. So 'n anderer Typ behauptet, du wärst schon tot, aber wies aussieht, stimmt das ja nicht. Also, was meinst du, Kate, lohnt es sich, auf dich zu setzen, oder nicht?«
    Brian stößt einen vernehmlichen Seufzer aus.
    »Wenn mein Pferd gegen dein Mundwerk antreten müsste, wahrscheinlich eher nicht«, erwidere ich.
    Brian und Finn lachen. Jonathan sagt, ich sei ein ganz schönes Biest. Ich nehme das als Kompliment.
    Ich sehe aus dem Fenster. Der Himmel verfärbt sich unter den Wolkenstreifen immer schneller schwarz. Weit vor uns in der Ferne leuchtet ein roter Lichtschein, wo sich Skarmouth an die Küste schmiegt, der Rest der Insel aber liegt düster und unheimlich da. Im Dunkeln kann man Wasser und Land nicht voneinander unterscheiden. Ich denke an heute Morgen, als ich mit Dove oben auf der Klippe trainiert habe. Der brennende Wind auf meinen Wangen und der Geruch der See haben mein Herz schneller schlagen lassen. Ich weiß, ich sollte schreckliche Angst vor heute Abend haben, genauso wie vor morgen und dem Tag danach, und die habe ich auch, aber ich spüre auch noch etwas anderes: ein erwartungsvolles Kribbeln.

29
    Puck »Die Parade der Reiter beginnt um elf«, sagt Brian Carroll. »Aber das weißt du wahrscheinlich.«
    Wusste ich nicht, aber jetzt schon. Elf Uhr scheint noch weit entfernt, so viele Stunden voll Lärm und Trubel. »Ich muss meinen Bruder finden«, sage ich zu Brian. »Meinen anderen Bruder.«
    Was ich vielmehr finden muss, ist der Boden unter meinen Füßen. Ich bin hier, auf Mums Fest, aber Mum ist nicht bei mir. Finn und Jonathan Carroll sind in der Menge verschwunden und haben mich mit Brian, dessen Lunge mir vertrauter ist als alles andere an ihm, und einer Schlangengrube voll Nervosität in meinem Bauch zurückgelassen.
    Die Bemerkung war eigentlich als eine Art »Ich bin dann mal weg« gemeint, aber Brian entgegnet: »In Ordnung. Was meinst du denn, wo er sein könnte?«
    Wenn ich die Antwort darauf kennen würde, hätte ich schon vor drei Tagen mit ihm geredet. Die Wahrheit ist, dass ich seit einiger Zeit so gut wie gar nichts mehr über meinen großen Bruder weiß. Brian reckt den Hals, um über die Menschenmassen hinwegzublicken, und sucht die Gesichter nach Gabes ab. Wir stehen am oberen Ende der Hauptstraße von Skarmouth und ich kann bis zum Kai hinuntersehen. Menschen bevölkern jeden Zentimeter. Das einzige freie Fleckchen ist ganz unten, fast am Wasser, wo sich gerade die Skorpio-Trommler ihren Weg durch die Menge bahnen. Irgendetwas riecht köstlich und mir knurrt der Magen.
    Ich antworte: »Irgendwo, wo ich ihn nicht suchen würde, wahrscheinlich. Hast du noch andere Geschwister?«
    »Schwestern«, sagt Brian. »Drei.«
    »Wo sind sie heute Abend?«
    »Festland.«
    Er sagt es ohne jede Schärfe und ich frage mich, ob der Schmerz wohl mittlerweile nachgelassen hat oder ob vielleicht nie welcher da war. »Wenn sie heute hier wären, wo wären sie dann?«
    »Mal sehen«, murmelt Brian nachdenklich, sodass es bei dem Geschrei rings um uns kaum zu hören ist, »am Kai oder im Pub. Sollen wir nachsehen?«
    Plötzlich kommt es mir seltsam vor, dass ich mit Brian Carroll so ein Gespräch führe. Er steht dicht neben mir, damit ich ihn verstehe, und wirkt riesig und kräftig und erwachsen mit seinen Locken und den muskulösen Fischerarmen, und die ruhige Art, wie er mir in die Augen sieht, macht mich nervös. Ein Teil von mir ist überzeugt, dass er nur versucht, nett zu mir zu sein, einem Kind, er selbst schon mehr oder weniger ein Mann, dann aber fällt mein Blick auf meine Hände. Es sind Mums Hände, nicht die eines kleinen Mädchens, und ich weiß, dass ich auch Mums Gesicht habe. Ich frage mich, wie lange es wohl noch dauert, bis ich mich so erwachsen fühle, wie ich aussehe.
    »In Ordnung«, stimme ich zu.
    Wir machen uns auf den Weg die Straße hinunter. Brians breite Schultern pflügen eine Schneise in die Massen von Menschen. Die meisten davon

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