Rot wie das Meer
Rennen mitreitest«, meldet sich Tommy zu Wort. Vor ihm stehen zwei leere Gläser und alle seine Wörter verschwimmen zu einem einzigen langen –keine nennenswerten Pausen, alles durch Zischlaute miteinander verschliffen. »Hab dich am ersten Tag gesehen. Erstes Mädchen überhaupt. Auf uns!«
»Ermutige sie nicht auch noch«, sagt Gabe, aber seine Stimme klingt freundlich. Ich rieche den Alkohol in seinem Atem.
»Du bist betrunken«, stelle ich fest.
Gabe sieht kurz Tommy an, dann wieder mich. »Sei nicht albern, Kate. Es ist nur ein Glas.«
»Dad wollte nicht, dass du trinkst. Du hast es ihm versprochen!«
»Du bist ja total hysterisch.«
Ich fühle mich nicht im Geringsten hysterisch. »Ich muss mit dir reden.«
»In Ordnung.« Gabe rührt sich nicht. An der Art, wie er dasitzt, erkenne ich, dass er sich Tommys Anwesenheit sehr bewusst ist und versucht, lässig zu wirken.
Ich beuge mich näher zu ihm und füge hinzu: »Allein.«
Was mich am meisten verletzt, ist der Ausdruck auf seinem Gesicht. Eine Augenbraue hochgezogen, so als wäre er immer noch der Meinung, dass ich vollkommen überreagiere.
Er dreht eine Handfläche zur Decke. »Allein sein ist hier ein bisschen schwierig. Kann das nicht warten?«
Ich lege meine Hand auf seinen Arm und packe ihn beim Hemdsärmel. »Nein. Kann es nicht. Ich muss jetzt mit dir reden.«
»Tja, dann muss ich wohl, Tommy. Bin gleich wieder da.«
»Zeig's ihm, Puck!«, sagt Tommy und stößt die Faust in die Luft. In diesem Moment hasse ich Tommy und jeden Millimeter seines hübschen Gesichts. Ich sehe ihn noch nicht mal an. Stattdessen ziehe ich Gabe auf eine Tür auf der Rückseite des Pubs zu. Es ist ein winziger Toilettenraum, in dem es nach frischem Erbrochenen stinkt. Ich schiebe die Tür hinter ihm zu. Ich wünschte, ich hätte einen Moment Zeit gehabt, um meine Gedanken zu ordnen und mir zurechtzulegen, was ich zu ihm sagen will, aber all meine Vorwürfe scheinen draußen vor der Toilettentür geblieben zu sein.
»Nett hier«, bemerkt Gabe spöttisch. Ein Spiegel von der Größe eines Taschenbuchs hängt über dem Waschbecken und ich bin froh, dass ich mich nicht darin sehen kann.
»Wo bist du gewesen?«
Gabe wirft mir einen Blick zu, als sei meine Frage vollkommen lächerlich. »Arbeiten.«
»Arbeiten? Die ganze Zeit? Die ganze Nacht?«
Gabriel verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, starrt an die Decke. »Ich war nicht die ganze Nacht weg. War's das jetzt?«
Das war es nicht, aber ich kann mich einfach nicht daran erinnern, was genau ich ihm ins Gesicht schreien wollte. Meine Gedanken liegen auf dem Boden verstreut und knirschen unter meinen Sohlen. Ich kann mich bloß noch daran erinnern, dass ich ihm ein blaues Auge verpassen wollte, als mir mit einem Mal die dringendste Angelegenheit von allen wieder einfällt. »Benjamin Malvern hat uns diese Woche besucht.«
»Hmm.«
»Hmm! Er hat gesagt, er will unser Haus zurück!«
»Ah.«
»Ah! Warum hast du uns nichts davon gesagt?«, will ich wissen. Ich
hasse mich dafür, dass ich noch immer seinen Arm umklammere. Aber wie kann ich sicher sein, dass er nicht einfach geht, wenn ich ihn loslasse?
»Wie hätte ich euch das denn sagen können?«, gibt Gabe zurück. Er klingt herablassend. »Finn wäre total durchgedreht und hätte sich zu Tode gesorgt und du wärst nur wieder hysterisch geworden.«
»Wäre ich nicht«, fauche ich. Ich bin nicht sicher, ob ich vielleicht in diesem Moment hysterisch bin. Alles, was ich gesagt habe, erscheint mir logisch, aber ich habe das Gefühl, meine Stimme nicht unter Kontrolle zu haben.
»Wie man sieht.«
»Wir hatten ein Recht darauf, es zu erfahren, Gabriel!«
»Und was hätte das geändert? Ihr zwei hättet ja wohl kaum mehr Geld verdienen können. Was, glaubst du denn, hab ich all diese Nächte lang gemacht? Ich tue mein Bestes.«
»Indem du abhaust.«
Mein Bruder blickt mich an und sein Lächeln ist verschwunden. Was zurückbleibt, ist keine Niedergeschlagenheit. Sein Gesicht ist völlig ausdruckslos, er kneift lediglich die Augen zusammen, gegen einen Wind, den ich nicht spüre. Ich kann nicht an die Gefühle von diesem neuen Gabe appellieren, weil ich nicht weiß, ob er überhaupt noch welche hat. »Ich hab alles versucht. Mehr als mein Bestes kann ich nicht geben.«
»Das reicht aber nicht«, sage ich.
Er löst seinen Ärmel aus meinem Griff und öffnet die Tür. Der Lärm und die verqualmte Luft aus dem Pub dringen in den luftleeren
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