Rot wie das Meer
sind Touristen mit fremden Gesichtern. Irgendetwas an ihnen ist kaum merklich anders, als gehörten sie zu einer anderen Spezies. Ihre Augen stehen ein bisschen näher zusammen, ihre Nasen sind ein bisschen gerader, die Münder schmaler. Sie sind auf dieselbe Art mit uns verwandt, wie Dove mit den Wasserpferden verwandt ist.
Keine Spur von Gabe. Aber wie sollten wir ihn in diesem Gewühl auch finden? Brian jedoch drängelt sich weiter, die Straße hinunter in Richtung des Hafenbeckens.
Um uns herrscht Lärm, Lärm, Lärm. Trommeln und Geschrei, Lachen und Gesang, Motorräder und Fiedeln.
Wir schlagen uns durch bis zum Kai, wo es ein bisschen ruhiger ist, da zumindest auf einer Seite keine Menschen sind, sondern nur das Meer, das unermüdlich gegen die Mauer schwappt. Das Wasser ist näher als sonst, streckt sich nach uns aus. Hier ist es so leise, dass ich die Unruhe auf einer der Klippen oberhalb der Stadt höre.
»Was ist denn da oben los?«, frage ich. »Ist dort das Feuer?«
Brian blinzelt hinauf, als könnte er dort noch irgendetwas anderes entdecken als die Häuser, die wie mit Leim an den Hang geklebt wirken. »Das Feuer, ja. Und die Seewünsche.«
Über die Seewünsche weiß ich nur, dass Pfarrer Mooneyham uns davor gewarnt hat. Auch Mum konnte ich nie mehr darüber entlocken.
»Hast du mal einen Seewunsch ausgesprochen?«, frage ich.
Brian sieht mich bestürzt an. »Natürlich nicht.«
»Wie genau geht das denn überhaupt?«
»Du schreibst mit einem Stück Kohle aus dem Feuer etwas auf ein Blatt Papier. Und das wirfst du dann von der Klippe.«
»Klingt gar nicht so schlimm.«
»Es sind böse Wünsche, Kate. Flüche. Man schreibt sie rückwärts auf den Zettel und wirft sie dann ins Meer.«
Ich bin entsetzt und fasziniert zugleich. Sofort überlege ich, ob mir ein Fluch einfällt, den ich über die Klippe werfen würde. In meiner Vorstellung gebe ich ein beeindruckendes Bild ab, eine dunkle Silhouette, die sich vor dem Feuer abzeichnet und pures Verderben ins Meer schleudert.
»Du bist eine ziemlich Wilde, Kate Connolly«, sagt Brian. »Das sehe ich dir an.«
Ich bin mir da nicht so sicher, aber als ich zu ihm aufblicke, studiert er mit eindringlichem Blick mein Gesicht. Plötzlich bekomme ich Angst, er könnte versuchen, mich zu küssen, und ich weiche ein paar Schritte zurück, bevor mir klar wird, dass er sich keinen Millimeter gerührt hat. Er lacht, aber es ist ein freundliches, beruhigendes Lachen. Vielleicht bin ich tatsächlich eine Wilde.
»Na, komm«, sagt Brian schließlich. »Lass uns sehen, ob er irgendwo hier ist.«
Wir gehen weiter an der Kaimauer entlang. Hier stehen die Zelte der Imbissverkäufer und anscheinend hat Brian Gabe deshalb hier vermutet. Die Verkäufer haben alle Hände voll zu tun und wir müssen uns durch Schlangen von Wartenden drängen. Brian reckt wieder den Hals, um nach meinem Bruder Ausschau zu halten, und erneut überkommt mich dieses seltsame Gefühl, weil ich mir bei dieser privaten Angelegenheit von jemandem helfen lasse, der nicht zu meiner Familie gehört. Warum verbringt er seine Zeit lieber damit, Gabe zu suchen, als feiern zu gehen?
»Du solltest nicht deinen ganzen Abend hiermit vergeuden«, sage ich zu ihm. »Du solltest lieber Spaß haben. Ich suche allein weiter.«
Brian blickt zu mir herunter. Es kommt mir vor, als sei er im Laufe des Abends noch größer geworden. Bis wir Gabe gefunden haben, ist er bestimmt so groß wie die St.-Columba-Kirche auf ihrem Hügel und ich brauche eine Trittleiter, um mit ihm reden zu können. »Ich habe Spaß. Oder willst du, dass ich gehe?«
Ich glaube ihm nicht. Ich weiß, wie Leute aussehen, die Spaß haben, dass man dabei jauchzt und im Kreis tanzt und sich vielleicht ein aufgeschlagenes Knie holt. Das hier ist allerhöchstens interessant, aber kein Spaß. »Ich hab ein ziemlich schlechtes Gewissen, dich so in Anspruch zu nehmen.«
Brian schluckt und wirft einen Blick über die Menge, als suche er noch immer nach Gabriel. »Die letzte meiner Schwestern ist vor knapp einem Jahr aufs Festland gezogen. Eigentlich war ich immer mit ihr hier.«
»Gabe will auch aufs Festland.«
Es ist heraus, bevor ich darüber nachdenken kann, und schon in der nächsten Sekunde habe ich keine Ahnung mehr, warum ich es gesagt habe. Warum erzähle ich Brian Carroll davon, wo ich doch noch nicht mal mit Finn richtig darüber geredet habe? Die ausführlichste Unterhaltung, die ich je mit Brian Carroll geführt habe,
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