Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
betrachte die Linien auf meiner Hand. Während einer meiner Streifzüge mit Großmutter Saba hatte mir eine Wahrsagerin prophezeit, dass ich zeitlebens auf Reisen sein würde. Um meinem Schicksal zu entfliehen, hatte sie hinzugefügt. Aber als wir draußen waren, hatte mir Großmutter Saba erklärt, dass diese Wahrsagerin keinen Heller wert sei. Vielleicht um zu verhindern, dass sich ihre Worte bewahrheiteten.
Großmutter Saba hat mich mit der Vorstellung aufwachsen lassen, dass der Tod ebenso wie das Leben kommt, wann immer es ihm beliebt.
Epilog
Großmutter Saba starb am 1. Februar 2003, am selben Tag, an dem mein Sohn geboren wurde. Sie wurde in Kaltra bestattet, neben ihrer Mutter Meliha. Sie hatte sich gewünscht, nicht neben Omer und Sultana beigesetzt zu werden. »Ich will meiner Schwester das zurückgeben, was ihr gehörte. Außerdem möchte ich, dass der arme Omer seinen Frieden findet, ohne länger zu glauben, er müsse sich zwischen zwei Frauen aufteilen.« Ihr Wille wurde respektiert.
Sie war heiter, als sie die Augen für immer schloss, genauso wie ihre Mutter, wie alle Frauen der Familie. Ich weiß nicht, ob sie bemerkt hat, dass ich nicht bei ihrer Beerdigung war, sie hat es mir auf jeden Fall verziehen. Ich musste ihr ein Versprechen geben:
»Bring mir keine Blumen, lass nicht zu, dass mir jemand Blumen aufs Grab legt. Das ist ein dummer Brauch, was soll ich mit Blumen? Sie würden nur die Esel anlocken, die in der Nähe des Friedhofs nach frischem Gras suchen.«
Ich warte seit Jahren auf Nachricht von ihr. Früher glaubte ich, ihr Bote hätte Mühe, bis zu mir vorzudringen, weil ich mich am falschen Ort befände. Er wird sich in Erinnerungen verstrickt haben, sagte ich mir, so wie die Worte, die mich zu ihr führen sollten, Worte, die noch lebendig sind in mir. Dann habe ich an ihren Stätten nach ihr gesucht, bin während der Maisernte auf ihre Felder gegangen: Sie waren für sie der Mittelpunkt der Welt. In ihrem Haus nahe dem Fluss, wo der Nordwind an die Fenster der großen, nunmehr leeren Zimmer schlägt, reicht mir ihr Schatten ein Glas Raki.
Ich denke an ihr Leben, an all die von ihr gelebten Jahre, die ich nicht kenne. Saba hat nicht viel bekommen vom Leben, aber immerhin genug, um zu begreifen, dass es schon ein Geschenk ist, wenn du an einem Herbsttag vor dem Spiegel stehst, um die Falten in deinem Gesicht zu zählen.
Ich bin in diesen Jahren zufällig ihrer Katze begegnet. Die Katze, die ich niemals gesehen habe, die sie an einem fernen Nachmittag unterm Schnee begraben hatte. Sie sah genauso aus, wie sie sie mir beschrieben hatte. Sie ließ sich streicheln. Sie hat meine Hand, ihre Hand wiedererkannt, unsere leeren Hände, am Geruch.
Vielleicht, so dachte ich, ist nicht der Ort falsch, sondern die Sprache. Ich spreche eine ihr unbekannte Sprache, und so versuchen wir vergeblich, uns gegenseitig zu erreichen. Vielleicht hofft sie, mich an den Worten zu erkennen, an der farbenfrohen, reich schattierten Sprache, die sie mich gelehrt hat, an den seltsamen Reden, die niemand außer uns verstehen konnte. Aber ihre je nach der Jahreszeit auf ihren Feldern blau, grün, gelb gefärbte Sprache, die sie von mir hören möchte, ist nicht mehr meine.
Ich habe zweimal entbunden, beide Male sprach man eine andere Sprache, keine davon war meine eigene, ihre. Eigentlich möchte ich ihr nur sagen, dass es bei mir kaum anders war als bei ihren zahlreichen Geburten, die Kinder kamen gesund und munter zur Welt, alle beide.
Was mir von ihr geblieben ist, habe ich mit mir genommen, unübersetzt, unverfälscht. Auch die Ohrringe mit den roten Steinen, die ich nur zu ganz besonderen Anlässen trage. Es sind schwere Ohrringe, und es ist nicht nur das Gold, das wiegt.
In meinem Schlafzimmer steht ihre alte, wurmstichige Holztruhe. Wenn ich sie öffne, steigt mir mit einem Schlag der Duft von Quitten in die Nase. Das wundert mich, denn ich habe nie welche hineingetan. In der Stadt, in der ich lebe, lässt sich diese Frucht, die vor rund viertausend Jahren aus dem Kaukasus über Anatolien zu uns gelangte, um die Sehnsüchte und Hoffnungen unserer Frauen mit ihrem Duft zu durchtränken, nicht so leicht auftreiben. Aber der Duft ist da, es ist der Duft nach glücklicher Mutterschaft, aber auch nach Müttern, die verlassen wurden, nach Müttern, die ihre Kinder zu Bett bringen und nach denen, die den Stoffpuppen ein Schlaflied singen. Es ist auch der herbe Geruch der Muttermilch, der Mutterbrust, die von
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