Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
das Loch, aber was sie herauszieht, ist kein Stein: Es ist ein Schädel. Sie legt ihn neben die Katze und beginnt erneut zu graben. Sie sucht nach dem Rest, aber es gibt kein Skelett. Es ist sinnlos zu fragen, zu wem der Schädel gehört. Auch wenn man ihn identifizieren könnte, würde das an seinem Schicksal nichts ändern.
Anstelle des Schädels legt sie die Katze ins Loch. So gibt sie diesem Stück Erde einen anderen Tod zurück, einen vollständigen diesmal. Dann nimmt sie den Schädel und geht nach Hause. Sie versteckt ihn sorgfältig im Stall. Sie wird in Ruhe darüber nachdenken, was sie damit anfangen soll.
Nach ein paar Tagen hört es auf zu schneien. Das Leben kehrt in seinen gewohnten Rhythmus zurück und ebenso Saba. Sie macht sich Gedanken, was sie tun soll. Wenn sie ihn zu den Behörden bringt, wird dieser arme Schädel niemals Frieden finden. Vielleicht war es nicht richtig, ihn von dort fortzunehmen. Die Vorstellung, zur Polizei zu gehen, gefällt ihr nicht, sie würden ihn in irgendeiner Amtsstube in ein Regal stellen und über die Jahre vergessen. Sie könnte jemanden um Rat fragen. Aber nicht die Freundinnen, nach ein paar Stunden wüsste es bereits das ganze Dorf. Und erst recht nicht die Töchter. Der Gedanke, dass die Mutter in unmittelbarer Nähe des Hauses mit einem Schädel zu schaffen hat, würde ihnen den Schlaf rauben.
»Ich geh zum Imam. Er wird mir weiterhelfen«, denkt sie. Mit dem Schädel in der Einkaufstasche macht sie sich auf den Weg zu ihm. Eigentlich ist er ein Ex-Imam, der jetzt in der Landwirtschaftsgenossenschaft arbeitet. Sie sind beinahe verwandt. In erster Ehe hat der Imam Omers Schwester Adile geheiratet. Dann fing der übliche Schlamassel an, in den Männer geraten, die ihren Hosenstall nicht zuhalten können, und ehe er sich’s versah, hatte er eine zweite Frau im Haus. Genauso fruchtbar wie die erste, aber weniger robust als sie: Die sechste Geburt hat sie dahingerafft und Adile an dem Platz zurückgelassen, den sie schon immer innehatte, mit sechs weiteren Kindern, die sie großziehen musste.
Der Imam steht rauchend am Kamin.
»Tritt ein, Saba, tritt ein, liebe Schwägerin. Was führt dich zu mir bei dieser Kälte?«, fragt er.
»Ich wollt nur vorbeischauen«, antwortet Saba.
»Da hast du nie bei mir vorbeigeschaut, solange ich noch mit Allah und seinen Angelegenheiten beschäftigt war, und jetzt, wo ich mich nur noch um die eigenen kümmere, schneist du herein. Schieß los, Saba, was hast du auf dem Herzen?«
»Imam Ali, ich interessiere mich nicht für deine Angelegenheiten, und auch nicht für die von Allah. Aber du weißt alles, was man wissen muss, weil du die Welt gesehen oder es in Büchern gelesen hast oder weil der da oben es dir eingegeben hat.«
Saba öffnet die Tasche und zieht den Schädel heraus. Imam Ali sieht sie an, ohne sich zu rühren.
»Was sagst du dazu?«, fragt Saba. »Er war im Wald neben unserem Haus begraben. Ohne den Rest. Ich weiß nicht, warum ich ihn mitgenommen habe, Imam Ali. Es war nicht richtig. Aber was soll ich jetzt tun? Soll ich ihn zu Trifon, dem Polizisten, bringen oder nicht?«
»Genügen dir nicht die Lebenden, Saba, musst du auch noch die Toten stören?«, erwidert er. »Du hättest ihn da lassen sollen, wo du ihn gefunden hast. Wenn er dort gelegen hat, muss es irgendeinen Grund dafür geben.«
»Vielleicht lag er nur dort, damit ich ihn finde«, sagt Saba.
»Unzählige Kriege wurden geführt, unzählige Hungersnöte haben wir erlebt, und unzählige Menschen sind spurlos verschwunden. Niemand wird je erfahren, wo sie geblieben sind, nur Allah weiß es. Lass ihn mir da. Sobald das Wetter besser ist, werde ich ihn begraben. So kann ich für ihn die Suren singen«, erklärt Imam Ali.
Dann nimmt er den Schädel, betrachtet ihn eingehend und sagt: »Armer Mann, so viel hast du erduldet, und so viel wirst du noch erdulden. Wer weiß, was dir unter den Lebenden widerfahren ist, dass du selbst unter den Toten keinen Frieden findest. Du wirst ewig zwischen den Welten schweben, nicht einmal die Hölle hat dich gewollt.« Er kann gut prophezeien, der Imam. Er legt den Schädel in die Truhe, in der auch der Koran liegt.
Saba kehrt nach Hause zurück, ohne viel von seinen Worten verstanden zu haben. Aber jetzt braucht sie sich wenigstens um nichts mehr zu kümmern, jetzt kann sie endlich in Ruhe um ihre Katze trauern.
Zwölf
Esma war mit einem rechtschaffenen Mann verheiratet, der in den Reihen der nationalen
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