Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
herauskommt, ist sein Gesicht aschfahl. Auch wenn sie immer über den Wolken schwebt, hat Esma diesmal alles begriffen. Begriffen und gebilligt: So groß ist ihre Liebe zu ihm. Sie sagt kein Wort, aber wenn das, was geschieht, die Ehre ihres Liebsten rettet, ist sie bereit, sich zu opfern.
»Soll sie hingehen, wo der Pfeffer wächst«, murmelt eine der Schwägerinnen, als Esma mit dem gepackten Koffer aus dem Zimmer tritt.
Bei Einbruch der Dunkelheit sieht das Dorf beide gemeinsam zum Haus von Esmas Mutter Meliha hinuntergehen. Er läuft vorweg, mit dem Koffer in der Hand, sie folgt ihm mit gesenktem Kopf, so wie sie ihm auch in die Hölle folgen würde.
Vor dem Tor hält er inne. Er stellt den Koffer ab und zündet sich eine Zigarette an.
»Esma«, sagt er mit einer Stimme, die der Wüstenwind herüberweht, »der Mensch ist schwach, so schwach wie das Gras unter unseren Füßen. Und unser Geist ist ein Wald, ein Wald voll von Toten. Meine süße Esma, manch einer geht, manch einer bleibt, und manch einer kehrt zurück. Aber was soll ich tun, Esma, was soll ich bloß ohne dich tun?«
Er fängt an zu weinen, wie ein Kind. Hemmungslos. Sie lässt ihn sich ausweinen, dann reicht sie ihm ein besticktes Taschentuch. Im engelsgleichen Licht der Dämmerung umarmen sie sich, sie kostet zum letzten Mal den Geschmack seiner salzigen Tränen, und schon kurz darauf eilt er fort, um seine Trauer im Rakidunst zu ertränken.
Dreizehn
Omers Schwester Adile musste sich irgendwann alles, was sie besaß, mit der Rivalin teilen, vor allem den Ehemann.
Zuerst wollte sie fortgehen, die Kinder nehmen und flüchten. Flüchten, um das Gesicht dieses treulosen Kerls nicht mehr sehen zu müssen. Kaum zu glauben, dass die Frauen aus dem Dorf sie am Anfang um ihre Ehe beneidet hatten.
»Adile, du kannst froh sein, dass du so einen Mann gefunden hast. Er begreift, was mit uns gemeinen Sterblichen geschieht, und er begreift auch die Dinge über uns.«
Ja, er begriff alles. Wirklich alles, außer dass ein verheirateter Mann nicht mit untröstlichen Witwen herumhurt. Aber wer hätte das ahnen sollen? Er, der allen mit Worten und Vernunft begegnete, selbst den zweijährigen Knirpsen, hatte wohl kaum an die Vernunft appelliert, als er sich die Hosen aufknöpfte. Diese Dinge nagten in Adile, während sie die Hausarbeiten erledigte.
Sie hatte viel zu tun, Adile: viele Kinder, viel Arbeit. Sieben hatte sie selbst zur Welt gebracht, aber am Ende musste sie sich um dreizehn kümmern. Die sechs anderen stammten von Imam Alis zweiter Frau, die vor ein paar Jahren gestorben war. Als sie noch lebte, hatten sie sich wie zwei Schwestern verstanden. Sie hatten eine stillschweigende Übereinkunft getroffen: sich gemeinsam um die Kinder zu kümmern, egal aus welchem Schoß sie gekrochen waren; und Imam Ali im Auge zu behalten, um nicht am Ende noch eine dritte Frau im Haus zu haben. Obwohl Polygamie per Gesetz verboten war, hätte er es wie mit der zweiten Frau machen können, die nirgendwo amtlich registriert war. Ihre Kinder ließ Imam Ali unter dem Namen der ersten Frau eintragen. Ganz einfach.
Er hatte nie an eine zweite Frau im eigentlichen Sinne gedacht. Zwar amüsierte er sich gern mit dieser oder jener, aber sie waren immer schon verheiratet, eine Jungfrau konnte er sich nicht leisten. Genau auf diese Weise hatte er seine zweite Frau kennengelernt: Weil er eine Geschichte mit der Mutter hatte. Ein bloßer Zufall. Als sie Witwe wurde, hatte er ihrem Mann die letzte Ehre erwiesen.
An jenem Tag sitzt Imam Ali am Kamin. Die Witwe tritt schluchzend ein. Sie nimmt ihm gegenüber Platz und beginnt mit der Totenklage. Sie bringt das gesamte Leben und alle Vorzüge ihres Mannes in Verse. Wenn man sie hört, könnte man glauben, sie habe den besten Ehemann der Welt gehabt. Aber die Totenklagen sind immer so. Nie wird über den Verstorbenen gesagt, dass er Frau und Kinder geschlagen hat oder sich mit Grappa betrank.
Während die Witwe die Vorzüge ihres Mannes aufzählt, senkt Imam Ali zustimmend den Kopf und sieht. Was sieht er? Etwas, das ihn verwirrt. In der Eile hat die Witwe vergessen, sich die Unterhosen anzuziehen.
Inzwischen ist die Witwe bei den körperlichen Vorzügen des Ehemanns angelangt:
Roter Mund von Bart umrahmt,
ohne dich mein Leben verarmt.
Als der Imam die letzten Worte hört, sagt er, ohne weiter darüber nachzudenken:
»Ich sehe, ich sehe es mit meinen eigenen Augen. Und was für ein Mund, so rot wie eine Rose.«
Die Witwe
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