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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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eine Frau anzubaggern, bleiben überall die gleichen.
    Die Geschichte mit Romeo ging einige Monate später, an einem Herbstabend zu Ende. Wir saßen plaudernd auf dem Balkon seiner Wohnung und beobachteten die Leute, die vorbeiliefen. Plötzlich sah er seinen Vater kommen, packte mich an einer Hand und zog mich hinein.
    »Der Alte darf dich nicht sehen«, sagte er. »Bleib in meinem Zimmer und sei leise. Keine Sorge, er wird sich bald in sein Arbeitszimmer verziehen, um zu lesen.«
    Er gab mir einen flüchtigen Kuss, stieß mich in sein Zimmer und schloss mich ein. Das war zu viel für mich.
    Ich hörte Geräusche aus der Küche, Geräusche eines Abends, den ein verwitweter Vater nach einem langen Arbeitstag mit seinem Sohn verbringt.
    Ich hatte auch Hunger, und das Klappern des Geschirrs während ihrer gemeinsamen Mahlzeit half mir nicht weiter. Diese Mahlzeit zog sich endlos in die Länge.
    Zwischendurch hatte ich immer wieder das Gefühl, gleich in die Hose machen zu müssen.
    Durch die Mauern des Zimmers, in dem ich wartete, drang leise Musik. Ich ließ mich von ihr einlullen und empfand dabei nur umso stärker meine Einsamkeit. Ein Nachbar spielte etwas unbeholfen Let it be auf dem Klavier. Unser Lied, dachte ich, bevor ich die Augen schloss.
    Irgendwann spürte ich eine Hand, die mich sanft rüttelte.
    »Wach auf, Schlafmütze, wir haben die ganze Nacht für uns.«
    Mühsam öffnete ich die Augen. Ich sah, wie sich Romeo auszog, um zu mir ins Bett zu kriechen. Nur in Unterhose hob er die Bettdecke an und sagte mit der Selbstverständlichkeit und der Gestik eines Mannes, der seit zwanzig Jahren mit seiner Frau schläft:
    »Brr, wie kalt es heute Abend ist.«
    Vielleicht hätte ich als Frau, die ihren Mann seit zwanzig Jahren reden hört, antworten müssen:
    »Das ist ganz normal, Liebling, es ist Herbst, hm, du hast immer so kalte Füße …«
    Vielleicht hätte ich ihn auch in den Arm nehmen müssen. Aber ich wusste schließlich nicht, wie Romeos Füße normalerweise waren. Ich wusste es nicht und sollte es nie erfahren.
    »Oh nein, mein lieber Romeo«, sagte ich, »du schläfst auf dem grauen Teppich am Fußende des Bettes. Ich werde darauf warten, dass die Welt wieder erwacht.«
    Ich ging nie wieder zu Romeo. Er kam manchmal, um unter meinem Fenster Let it be zu pfeifen. Unser Lied – das einzig uns Gemeinsame.

Zweiundzwanzig
     
    »Heute geh ich keinen Schritt vor die Tür, ich kann nicht, es ist kalt, und außerdem regnet es. Eins von beiden wäre ja noch zu ertragen, aber beides zusammen? Abgesehen davon habe ich nicht einmal die passenden Schuhe …« Tina, die Engländerin, mit der ich mir das Zimmer teilte, redete wie ein Wasserfall.
    Sie war als Erste aufgestanden, auf den Balkon hinausgegangen und mit klaren Vorstellungen über das Programm des Tages wieder hereingekommen: Sie würde faulenzen.
    Ich beschloss, ebenfalls dazubleiben. Bisher hatten wir kaum eine Vorlesung geschwänzt. Wir legten uns wieder ins Bett, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Wir Studenten, oder besser gesagt, wir Bewohner der Studentenstadt, waren dazu gezwungen, unser Studentenradio zu hören.
    »Guten Morgen, Leute, der neue Tag hat begonnen. Das Studentenradio wünscht euch für heute viel Erfolg.«
    Welch Glück, dass uns jemand an den Beginn des neuen Tages erinnerte und daran dachte, uns mitzuteilen, dass alles von vorne begann. Wir Studenten waren so beschäftigt, dass wir das glatt hätten vergessen können.
    Das Radiogerät in unserem und den anderen Zimmern war ein mit mehreren Öffnungen versehener, rechteckiger, schwarzer Kasten, der über unseren Köpfen an der Decke hing. Dieser Kasten fing morgens um halb sieben an zu krächzen.
    Oft weckte uns die damals sehr beliebte Parashqevi Simaku mit so einfallsreichen Texten wie:
Wo auch immer auf der Welt
    Du weilen musst,
    das Wort Mutter erfüllt dir
    mit Liebe die Brust.
    Ob einem das Lied nun gefiel oder nicht, das schwarze Gerät an der Decke ließ sich nicht abstellen. Die Kulturverantwortlichen der kleinen, von Studenten bewohnten Stadt hatten das Problem der Einschaltquoten auf diese Weise gelöst.
    Tina und ich hörten also Radio, als plötzlich jemand an die Tür klopfte. Ein zartes Klopfen, das mich wenig später in andere Zeiten versetzen, alte Familiengeschichten wieder aufleben lassen sollte. Das Schicksal geht seltsame Wege: Du befindest dich an einem Ort, an dem die Vergangenheit ausgelöscht zu sein scheint, und an einem verregneten Morgen holt

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