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Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)

Titel: Rot wie eine Braut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anilda Ibrahimi
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sie dich mit einem Schlag ein.
    Tina stand widerwillig auf, um zu öffnen. Küsschen und Umarmung, es war Besuch für sie. Ich zog mir die Decke über den Kopf, um niemanden begrüßen oder mich gar unterhalten zu müssen. Ich glaubte, es sei eine von Tinas Verwandten, die ihr ein Paket von den Eltern vorbeibringen wollte. Ich stellte mir vor, dass wir zwei, drei Tage nicht in die Mensa gehen würden und kostete in Gedanken schon alle möglichen Leckerbissen.
    Ich hörte ihr Gespräch und im Hintergrund das Radio. Zuerst waren es nur ein paar belanglose Worte, dann sprachen sie über eine Zugfahrt, eine nächtliche Reise, mit der ihre Freundschaft begonnen hatte.
    Besser wär’s, in die Uni zu gehen, dachte ich unter meiner Decke. Ich tat so, als würde ich gerade erwachen und begann, mich langsam zu rühren. Ich streckte mich und rieb mir die Augen. Als ich sie öffnete, dachte ich: Du träumst. Nur wenige Meter von mir entfernt stand eine Gestalt, die unmittelbar meiner Kindheit entsprungen war, und plauderte mit Tina. Aus purem Zufall war diese für die gesamte Familie so befremdliche Verwandte in meinem Zimmer im Herzen Tiranas gelandet.
    Ich vergrub mich wieder unter meiner Decke und blieb dort, bis Tina ihre Freundin an die Tür begleitete.
    »Wer war das?«, fragte ich in gespielt gleichgültigem Ton.
    »Wir haben uns im Zug kennengelernt«, erklärte Tina. »Ich bin in Fier ausgestiegen, sie ist weiter nach Vlora gefahren.«
    »Wie nett, dass sie dich einfach besuchen kommt«, sagte ich.
    »Ja«, erwiderte Tina, »sie braucht Hilfe. Sie hat in allen möglichen Zeitungen eine Heiratsannonce aufgegeben, jetzt hat ihr ein Engländer geschrieben. Aber sie kann die Sprache nicht so gut, deshalb soll ich ihr den Brief übersetzen und dann auf Englisch antworten.«
    »Der Stimme nach war sie über das heiratsfähige Alter schon hinaus«, sagte ich zögernd.
    »Sie ist ein bisschen älter als wir«, antwortete Tina.
    Ein bisschen älter als wir? Bubi? War Tina vollkommen blind? Bubi war so alt wie mein Vater. Aber ich brachte es einfach nicht über mich, Tina zu sagen, dass ihre Freundin eine meiner Verwandten, die Tochter von Tante Esma war – von Tante Esma der Kurva.
    Trotz allen guten Willens des Vaters und der näheren Verwandtschaft waren Tante Esmas Töchter ledig geblieben. Die Geschichte kam allen sehr merkwürdig vor. Sie waren nicht die einzigen Töchter, deren Eltern getrennt lebten, dennoch wuchsen die anderen heran und heirateten irgendwann. Wer weiß, was in den Köpfen der beiden vorgegangen war, dass sie jenen Hass gegen alle Männer dieser Erde entwickelten.
    Als der Eiserne Vorhang fiel, hatten sie bereits die vierzig überschritten und waren ganz allein auf der Welt. Vater, Mutter und Stiefmutter waren nacheinander gestorben. Zuerst Tante Esma, die ihre Augen an dem Tag für immer schloss, an dem der Nachfolger des Diktators die ersten Signale für eine Öffnung des Landes gab. Die Öffnung gegenüber der Welt begann mit den Kühen: Unsere Wirtschaft wurde liberaler, die Bauern bekamen das Recht, eine eigene Kuh zu besitzen. Blinde Kühe, die jahrelang in düsteren Ställen gehaust hatten, strömten begierig nach Licht auf die Straßen. Als Tante Esma die Nachricht im Fernsehen hörte, sagte sie, sie müsse ihre Kuh holen gehen. Sie sagte, die Schwiegermutter rufe sie. Die Schwiegermutter war seit zwanzig Jahren tot, aber offenbar hatte sie Esma nicht vergessen, da sie sogar aus dem Jenseits nach ihr rief.
    Allein auf sich gestellt hatten Delfina und Bubi angefangen, Fremdsprachen zu lernen. Angesichts der Öffnung des Landes mussten sie sich darauf einstellen, mit der Welt zu kommunizieren.
    »Lass uns abhauen, lass uns ins Ausland gehen«, hatte Bubi ihrer Schwester vorgeschlagen. »Wir müssen nur einen Weg finden, der zwei Damen wie uns angemessen ist. Schließlich können wir uns nicht mit all dem Lumpenpack auf ein Schiff flüchten …«
    Gesagt, getan: »Schöne, reife und unberührte Frau sucht ausländischen Ehemann, möglichst wohlhabenden Engländer.«
    Alles auf Englisch geschrieben.
    »Aber warum nur Engländer und keine Italiener oder Griechen, die viel dichter dran wohnen?«, wollte Delfina wissen.
    »Deine Naivität erstaunt mich, Delfina. Willst du etwa die Engländer mit den Italienern gleichsetzen? Oder gar mit den Griechen, die den ganzen Tag nur trinken und abends in den Kneipen über Tische und Bänke gehen?«
    Es blieb nur noch abzuwarten, bis sich jemand auf die Annonce

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