Rot wie eine Braut: Roman (German Edition)
seltsamer Tag, und unser Treppenhaus schien mir der einzige ruhige Zufluchtsort zu sein.
Ich lief in die Wohnung, um Großmutter zu informieren, die gleich darauf mit ihren Totenklagen begann. Sie waren jedoch nicht den Helden aus Kuwait oder den gefallenen Irakern gewidmet, es war etwas anderes geschehen. Bei einer großen Verwandtschaft gibt es immer irgendwo Probleme, das wusste ich bereits. Der Enkel von Großmutters zweitältestem Bruder war zum Studieren nach Schweden gegangen. Ein Stipendium für vier Jahre. Er war im letzten Jahr und hatte beschlossen nicht zurückzukehren, von einem Tag auf den anderen. Er hatte bei den Behörden politisches Asyl beantragt, und dem Antrag wurde stattgegeben. Er würde nie wieder einen Fuß nach Albanien setzen.
Großmutter Saba sagte nichts dazu, aber sie fühlte sich verpflichtet, ihrem Bruder alles zu erzählen. Eine unvorhergesehene Totenklage, doch ihr Bruder hatte das Recht, es zu erfahren. Der Wind blies so heftig, dass man unmöglich nach Kaltra hinaufkonnte. Sie würde ein andermal in Ruhe dorthin gehen, zum Friedhof. Das Wichtigste jetzt war, dem Bruder alles zu erzählen. Was spielte es für eine Rolle, ob bei sich zu Hause oder auf dem Friedhof? Auf derlei Dinge achten sie im Jenseits nicht, im Jenseits haben die Dinge und ihre Bedeutung ganz einfach eine andere Ordnung.
Großmutter Saba stellte ein Foto des verstorbenen Bruders vor sich auf. Sie zündete ein kleines Lämpchen an, nahm auf dem Boden Platz und begann:
Welch Wetter mag es bei dir sein?
Bei uns beginnt es bald zu schneien.
Der Frost hält Einzug hier ins Land,
woanders ist der Krieg entbrannt …
Großmutter hielt inne. Sie war angestrengt und keuchte. Die Jahre vergehen nicht nur für die, die fortgehen. Nachdem sie den Bruder bezüglich des Wetters und des aktuellen Geschehens auf den neusten Stand gebracht hatte, musste sie nun zu der Geschichte von seinem Enkel kommen. Zum ersten Mal hörte ich sie Verse sprechen, die sich nicht reimten. Reime waren unnütz, sie nahmen den Worten nicht ihr Gewicht. Vielleicht hatten die Dinge und ihre Bedeutung aber auch für Großmutter eine andere Ordnung bekommen. So etwas kann ebenso im Diesseits geschehen. Sie begann erneut, aber ihre Stimme klang anders. Ich saß auf der Truhe in ihrem Zimmer und hörte schweigend, wie erstarrt zu:
Ich frag mich bisweilen, wie deine Tage vergehen.
Ich lausche der Nachtigall, die nicht ahnt, dass du fort bist.
An heißen Sommertagen dringt der Klang deiner Oboe zu mir.
Im letzten Licht der Abendsonne kehren die Ziegen heim.
Die Welt hat sich verändert – keine Ziegen mehr und keine weißen Wölfe.
Sie sind mit Kaltra an den Grenzen der Zeit zurückgeblieben.
Was geht, ist auf ewig fort,
wie die Spuren deiner Schritte in dem großen Haus.
Sie hatte aufgehört zu weinen, ihre Klage ähnelte nunmehr einem Bericht für jemanden, der sein Zuhause seit langem verlassen hat und niemals zurückkehren wird. Aber auch eine Rückkehr hätte wenig Sinn: Die Welt verändert sich. Der Klang der Glocken, die man den Ziegen um den Hals hängt, verändert sich ebenso wie die Stimme der geliebten Frau, es verändert sich die Mondsichel, die sich in den Augen der ausgehungerten Wölfe widerspiegelt, die Weinrebe, die sich an der Ulme hinter dem Haus emporrankt, das Licht auf einsamen Straßen und auch jede Wiederkehr, zu jeder Jahreszeit, in tiefer Einsamkeit.
Großmutter sprach nicht über den Enkel, der in Schweden nach Demokratie verlangte. Was hätte es ihrem Bruder gebracht? Und ihr selbst? In all den Jahren hatte sie immer alles erzählt. Aber es hatte ihr unglaublich gefehlt, sagte sie, bei einer Neuigkeit die Gesichter ihrer Lieben zu sehen, die Sorgenfalten, die Hände, die sich bewegten wie im Flug getroffene Vögel. Ihre Klagen waren wie ein Licht, das sie in einem verlassenen Haus entzündet hatte, um zu warten, zu warten, zu warten …
Ich verließ das Zimmer, aus Anstand. Vielleicht hatte Großmutter das Bedürfnis, etwas zu sagen, ohne dass ich dabei war.
Ich zog mich mit meinen Freunden in das Treppenhaus zurück, das taten wir öfters. Manchmal gesellte sich eine der alten Frauen aus dem Haus zu uns, die aus Langeweile aus ihrer Wohnung kam, um ein paar Worte zu wechseln. Auch diesmal dauerte es nicht lange, und die Tür von Mukades ging auf.
Von allen alten Frauen war Mukades die sympathischste. Sie hatte drei Enkelkinder. Wir hörten sie schreien: »Drina, Drina, verflucht seist du und mein Schicksal, das mich
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