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Rot wie Schnee

Rot wie Schnee

Titel: Rot wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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gehörte zur Entwicklung der Teenager. Aber sie vermisste die frühere Gemeinsamkeit und das Vertrauensverhältnis. Und jetzt war es für Sekunden wieder da. Eva begriff, dass sie sich in Acht nehmen musste.
    »Wir setzen Teewasser auf«, sagte sie.
    Patrik zog die blutverschmierte Jacke aus und hielt sie unschlüssig in der Hand.
    »Um die kümmere ich mich später«, sagte Eva. »Leg sie auf den Fußboden.«
    Eine Jacke für einige hundert Kronen, dachte sie, was ist das schon. Sie zitterte am ganzen Körper beim Anblick seines traurigen Gesichts. In dem Moment öffnete sich die Tür zu Hugos Zimmer.
    »Was ist los?«
    Er hatte natürlich noch nicht geschlafen.
    »Jetzt ist alles gut«, sagte sie, »geh schlafen.«
    Hugo sah den Bruder verwundert und erschrocken an.
    »Nein, komm und trink mit uns Tee.«
     
    Bis das Wasser kochte, wischte Eva Patriks Gesicht ab. Die Verletzungen waren nicht so groß, ein drei Zentimeter langer Riss am Haaransatz, eine Schramme über dem rechten Auge und eine geschwollene Lippe.
    Sie überlegte, ob der Riss an der Stirn genäht werden sollte, fand es dann aber nicht nötig. Das würde gut heilen, und eine kleine Narbe, hinter dem Pony versteckt, machte nichts.
    Jedes Mal, wenn sie die Wunde mit dem desinfizierenden Mittel betupfte, zuckte Patrik zusammen. Er roch nach Schweiß. Die Haare waren verklebt, und er war sehr blass.
    Hugo hatte gedeckt. Mitten auf dem Tisch lagen auf einem Tellerchen drei Teebeutel, jeder mit anderem Geschmack. Jetzt stand er im Bademantel am Fenster und spähte hinaus.
    |93| »Glaubst du, Zero kommt hierher?«, fragte er.
    »Das glaube ich nicht, und wir wissen ja gar nicht, was passiert ist. Hast du Angst vor ihm?«
    Hugo schüttelte den Kopf. Patrik setzte sich an den Tisch.
    Eva goss Wasser auf.
    »Jetzt erzähl«, sagte sie.

14
    M anuels Großvater war ein
bracero
gewesen. So wurden die Männer genannt, die in den Vierzigerjahren in die USA fuhren, um dort zu arbeiten und die Lücken zu füllen, da so viele Amerikaner zum Kriegsdienst einberufen worden waren. Für die meisten der Männer lohnte sich das, sie kamen mit bunten Hemden, Lederschuhen und Bargeld zurück aus Idaho und Washington.
    So entstand die Vorstellung, dass das Leben in den USA leicht sei, dass man sich schnell ein Vermögen erwirtschaften könne. Den Pionieren folgten viele, darunter Manuels Vater. Nach drei langen Jahren kam er zurück, abgemagert und völlig am Ende, mit einem Blick, der abwechselnd Verzweiflung und Optimismus ausdrückte. Zwei Jahre später starb er. Eines Tages platzte die Halsschlagader, und binnen weniger Minuten war er tot.
    1998, zwei Tage bevor er zweiundzwanzig wurde, trat Manuel seine erste Reise an.
    Das Land im Norden konnte einem leicht imponieren. Was Manuel als Erstes auffiel, waren die vielen Autos, als Nächstes, dass man ihn als Mexikaner nicht als vollwertigen Menschen betrachtete. Er arbeitete ein Jahr lang, sparte vierhundert Dollar und kehrte ins Dorf zurück.
    Patricio hatte ausgerechnet, dass sie das Haus umbauen |94| und sich ein Maultier anschaffen könnten, wenn alle drei Brüder zwei Jahre lang auf den Feldern im Norden arbeiteten. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg.
     
    Wer sich beim illegalen Grenzübertritt für einen Fluss entschied, konnte unter dreien wählen: Río Bravo, Colorado und Río Tijuana. Manuel, der von Landsleuten gehört hatte, die ertrunken waren, entschied sich 1998 für die Landstraße. Beim ersten Mal ging er bei San Ysidro, südlich von San Diego, über die Grenze, und das war ganz einfach. Die Schreckensberichte über Tausende Mexikaner, die bei ihrem Versuch umgekommen waren, die Grenze zu überschreiten, waren bestimmt übertrieben. Vielleicht verbreitete die
Border patrol
diese Gerüchte, oder die
vigilantes
, die freiwilligen Grenzwächter, die an der Grenze patrouilierten.
    Aber vier Jahre später war es beträchtlich schwerer. Man hatte eine schier endlose Mauer gebaut. Diese Konstruktion mitten in der Wüste hatte etwas Absurdes und Erschreckendes.
    Angel und Patricio standen stumm neben ihm. Ein paar Männer aus Vera Cruz, die sie in Lechería getroffen und denen sie sich angeschlossen hatten, lachten vor Erschöpfung und Nervosität. Angel, der wirklich am Ende war, schielte zu Manuel hinüber. Patricio starrte Richtung Osten.
    »Man kann bestimmt gehen«, sagte er.
    »Zu Fuß?«, fragte Angel entsetzt.
    Es ging ihm schlecht. Er hatte seine Kappe irgendwo liegen gelassen, und die Sonne hatte ihm

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