Rot wie Schnee
in die Türkei gefahren, um an der Beerdigung seiner Mutter teilzunehmen, wurde aber bei der Ankunft festgenommen. Das war vor sechs Monaten gewesen. Ein Cousin hatte angerufen und erzählt, sie glaubten, der Vater sei in ein Militärgefängnis überführt worden, aber Genaues wusste niemand.
Zero ging praktisch nicht mehr in die Schule. Zwar tauchte er hin und wieder dort noch auf, aber dann meistens, um in der Schulmensa mit den anderen zu essen und zu provozieren. Eva glaubte, dass die Lehrer letztendlich froh waren, den unberechenbaren Jungen los zu sein. Sie hatte gehört, wie der Lehrer, den alle »Gecko« nannten, sich beklagte, niemand könne Zero unter Kontrolle halten.
»Er ist nicht eigentlich dumm«, sagte der Lehrer. »Aber so asozial, dass man es leid ist.«
Dass Patrik jetzt angefangen hatte, mit Zero abzuhängen, war ein schlechtes Zeichen. Was hatte der Junge, das ihn für Patrik anziehend machte? Das konnte doch nichts anderes sein als Spannung, vielleicht Musik oder Computerspiele.
Eva kam zurück ins Wohnzimmer und sah auf den Bildschirm.
»Was ist das?«
»Eine Serie«, antwortete Hugo.
»Und wovon handelt die?«
»Das ist eine Bande, die sich an der anderen rächen muss, Typ In-die-Falle-locken und so. Die anderen überlisten. Dann bekommen sie Punkte.«
|90| »Na, das klingt doch spannend.«
»Das ist superschlecht«, sagte Hugo.
»Was machen Zero und Patrik?«
»Wie soll ich das wissen?«
»Aber was hat denn Zero für Interessen?«
Hugo blickte erstaunt auf.
»Machst du Witze? Zero hat keine Interessen. Der weiß nicht, was das bedeutet.«
»Aber die Musik.«
Hugo seufzte.
»Seit sein Vater verschwunden ist, hört er nur noch so Arabermusik.«
»Ich hab geglaubt, er komme aus der Türkei.«
»Das ist dasselbe«, sagte Hugo.
»Aber schalte doch den Fernseher aus, wenn es so schlecht ist«, sagte Eva. »Hast du keine Hausaufgaben?«
»Der Mathelehrer ist krank. Richtig klasse.«
»Habt ihr denn keine Vertretung?«
Hugo schüttelte den Kopf.
Eva ging wieder ins Badezimmer und stellte eine Maschine mit Wollwäsche an. Im Hinblick auf die Nachbarn war es zu spät, aber Wollwäsche dauerte nicht so lange. Den Rest musste sie eben am nächsten Tag machen.
Sie überlegte, ob sie Patrik anrufen sollte, beschloss dann aber, bis um zehn zu warten.
Um Viertel vor elf war Patrik immer noch nicht nach Hause gekommen. Auf seinem Handy schaltete sich die Mailbox ein, und Eva sprach darauf. Gegen elf rief sie noch einmal an, mit demselben Resultat.
Unwillig war Hugo schlafen gegangen.
Eva saß in der Küche und sah in regelmäßigen Abständen auf die Wanduhr. Er gab sonst immer Bescheid, wenn er sich verspätete. Sie stand auf und trat ans Fenster. Im Haus gegenüber |91| waren die meisten Fenster dunkel. Bei Helen brannte Licht. Bestimmt war sie noch auf und strickte. Vielleicht wartete sie auf ihren Mann. Manchmal arbeitete er abends, oder behauptete es jedenfalls.
Sie lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Bitte komm doch bald nach Hause, dachte sie und schaute wieder auf die Uhr.
Sie wusste nicht genau, wo Zero wohnte, und hatte auch keine Telefonnummer. Zeros Mutter hatte sie wohl bei Besprechungen in der Schule gesehen, aber soweit Eva wusste, sprach sie kein Schwedisch.
Da fiel ihr ein, dass Hugo vielleicht Zeros Handynummer hatte. Vorsichtig schob sie die Tür zu seinem Zimmer auf.
»Was ist?«, fragte Hugo gleich.
»Ich hab überlegt, ob du vielleicht Zeros Handynummer hast.« Sie bemühte sich, ihre Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen.
»Ich hab schon angerufen«, sagte Hugo, »aber er nimmt nicht ab.«
Das Erste, was Eva sah, war Blut. Als existierte der Rest von Patrik nicht.
»Was hast du gemacht?«
Die Frage, die Eltern aller Kulturen zu allen Zeiten an ihre Kinder gerichtet haben. Mit einer Wut gestellt, hinter der sich die nagende Unruhe verbirgt und die Angst vor dem Schlimmsten.
»Ich bin hingefallen«, sagte Patrik.
»Hingefallen? Der Kopf ist ja ganz blutig!«
Sie sah, dass er versucht hatte, das Schlimmste wegzuwischen, aber dennoch waren Stirn und Wange total verschmiert. Am Haaransatz hingen Klumpen getrockneten Bluts, und die Unterlippe war geschwollen wie nach einem Schlag.
Einen Moment sahen sie sich an. In Patriks Augen erkannte sie diesen Ausdruck wie früher, ehe er sich zunächst unmerklich, |92| dann aber immer deutlicher verändert hatte. Das Sich-Distanzieren, um etwas Eigenes zu finden, hatte Eva akzeptiert, es
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