Rot wie Schnee
Am liebsten wäre sie sofort zum Krankenhaus gefahren, aber sie konnte Erik nicht mitnehmen. Ann wollte auch gar nicht, dass Viola ihn kennenlernte, er war schließlich der Grund für das Scheitern der Beziehung.
Sie beschloss, am nächsten Tag gleich nach der Morgenbesprechung hinzufahren. Den Abend würde sie mit Spekulationen zubringen. Sie las den Brief ein weiteres Mal und dachte, sie hätte Edvard gern beim Schreiben zugesehen.
|84| 12
L orenzo Wader bestellte ein tschechisches Bier, ein Staropramen. Dann nahm er das Glas und setzte sich in den Raum neben der Bar, zündete sich einen Zigarillo an und lehnte sich bequem im Sessel zurück. In zehn Minuten würde der kleine Mann kommen.
Lorenzo verließ sich nicht auf ihn, warum auch? Der war nur eine Ratte, die viel klatschte. Allerdings eine nützliche Ratte. Lorenzo lächelte unwillkürlich und nickte einigen der Hotelgäste zu, die auf dem Weg zur Bar an ihm vorbeikamen. Am Tag zuvor hatten sie ein paar Worte gewechselt, und die Männer hatten ihm erzählt, dass sich Teilnehmer aus aller Welt anlässlich einer Konferenz zu Fragen der Seismologie in Uppsala versammelt hatten. Lorenzo war ihrer Neugier entgegengekommen, indem er ihnen sagte, er sei Geschäftsmann und auf der Suche nach neuen Märkten und neuen Kontakten, was auch stimmte. Er wollte expandieren.
Auf die Minute pünktlich betrat die Ratte das Foyer, sah ängstlich zu dem Mann an der Rezeption hinüber, entdeckte Lorenzo Wader und steuerte auf ihn zu.
Lorenzo legte den Zigarillo ab und stand auf.
»Pünktlich«, sagte er nur und streckte ihm die Hand entgegen.
Die beiden Männer nahmen Platz. Olaf González sah flüchtig das Bierglas an, machte aber keine Miene, sich selbst auch ein Bier zu bestellen.
»Also«, sagte Lorenzo, »gibt es Neuigkeiten?«
»Armas ist unterwegs nach Spanien«, sagte González.
Das Helle seiner Stimme wurde durch den schwachen norwegischen Akzent verstärkt.
»Er fährt mit dem Auto.«
Ganz offenkundig wollte er noch etwas sagen, aber Lorenzo |85| half ihm nicht weiter. Er zog an seinem Zigarillo, trank einen Schluck Bier.
»Ich bin gekündigt«, sagte Olaf González. Dann erzählte er die ganze Geschichte, wie ungerecht man ihn behandelt hatte.
Lorenzo Wader merkte, dass in dem Bericht auch Kritik an ihm mitschwang, oder jedenfalls die Erwartung, unterstützt zu werden.
»Das ist ja ärgerlich«, sagte Lorenzo. »Aber es wird sich sicherlich zum Besten wenden.«
Er wollte die Ratte bei Stimmung halten, aber nicht zu viel versprechen.
»Ich hab ihm das Päckchen gegeben, und am nächsten Tag kam er ins ›Dakar‹. Er war außer sich vor Wut. Ich dachte, der bringt mich um.«
»Aber er hat dich nur rausgeworfen«, stellte Lorenzo fest. »Warum das? Schmutzige Wäsche?«
»Was soll das heißen, schmutzige Wäsche?«
»Na, weiß Armas etwas von dir, das nicht ganz so ehrenvoll ist?«
González starrte ihn an. Was bist du doch bescheuert, dachte Lorenzo.
»Woher weißt du das?«
Lorenzo seufzte.
»Willst du ein Bier haben?«
Der Kellner sah gekränkt aus, schüttelte unerwartet den Kopf. Lorenzo nahm seine Bewegung wahr.
»Bleib sitzen«, sagte er, und González sank zurück in den Sessel. »Du hast deinen Job gut gemacht«, fuhr er fort, »und er hat angebissen, das ist das Entscheidende. Das ist die gute Nachricht, viel wichtiger als die schlechte, dass du einen Scheißjob in einer Scheißkneipe los bist. So musst du das sehen. So was nennt sich Perspektive.«
Lorenzo schwieg und betrachtete den Mann, der ihm gegenübersaß. Er wusste zu wenig über González, aber er kannte |86| den Typ. Deshalb verließ er sich auf seinen ersten Eindruck. González war zum Verkauf, und nun saß er außerdem in der Patsche. Lorenzo war klar, dass González’ Möglichkeiten, hier in der Stadt einen neuen Job zu finden, beschränkt waren. Das kam ihm entgegen, selbst wenn es ihm lieber gewesen wäre, einen Kellner mehr im »Dakar« zu haben.
Er konnte ihn jederzeit ausrangieren, aber noch war González nützlich. Er kannte die Stadt und die Restaurantbranche.
»Was hattest du eigentlich mit Armas?«, fragte González.
Mit dem Wort »eigentlich« hatte Lorenzo es schwer, aber er antwortete lächelnd.
»Nichts Schlimmes«, sagte er.
»Das glaube ich nicht«, reagierte González unerwartet heftig. »Warum würdest du so viel Zeit aufwenden, wenn es nicht wichtig wäre? So dumm bin ich nicht.«
»Das glaube ich auch nicht. Warum hätte ich sonst zu dir Kontakt
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