Rot wie Schnee
unbarmherzig zugesetzt. Wenn er sich über die Stirn strich, löste sich die Haut in großen Fetzen.
»Bei Tecate kommen wir rüber«, sagte einer der Männer aus Vera Cruz und deutete nach Osten. »Irgendwo muss die Mauer ja mal ein Ende haben.«
Patricio war schon losgegangen. Spät am Abend kamen sie an. Die Männer aus Vera Cruz übernahmen die Führung, sie |95| hatten Erfahrung, weil sie die Grenze schon mehrfach überquert hatten. Sie führten die Gruppe durch ein ausgetrocknetes Flussbett und über eine gottverlassene steinige Ebene, wo offenbar nur Kakteen überleben konnten. Beim Anblick der Schilder, die vor der nahen Grenze warnten, bückten sie sich instinktiv. Außer dem schlurfenden Geräusch der Füße war nichts zu hören. Da war urplötzlich alles in grelles Licht getaucht, das von einem mobilen Scheinwerferturm herüberstrahlte. Sie sahen, dass sie in einer kreisförmigen Senke gefangen waren.
Von ferne war wildes Hundegebell zu hören. Die Brüder rannten los, stolperten über den steinigen Boden, Angel fiel hin, Patricio half ihm auf, Manuel trieb sie an. Er hatte von den Hunden gelesen und von der neuen Munition, mit der die Grenzpatrouillen ausgerüstet waren. Und deren Kugeln die Körper zerrissen.
Zwei aus der Gruppe wurden in einer Schlucht gefasst. Einer versuchte, die steile Felswand hinaufzuklettern, und stürzte ab, kurz bevor er oben angekommen war. Manuel sah, wie er – einem Schatten gleich – fiel und aus seinem Blickfeld verschwand. Er hörte den Mann aufschreien und ebenso schnell verstummen.
Vielleicht begnügte sich die Streife damit, dass ihnen zwei Mexikaner ins Netz gegangen waren, denn die Brüder und vier andere Männer gelangten ohne weitere Störungen über die Grenze und bis zur Straße. Auf der E 94 erreichten sie Dulzura. Sie waren in Kalifornien. Angel lachte und wollte die Nacht ausruhen, aber Patricio wollte weitergehen. Hätte er das Tempo vorgeben können, wären sie noch vor Sonnenaufgang in Oregon gewesen.
Ihr Vater hatte im Orange County gearbeitet, und das war auch das Ziel der Brüder. Dort war es wohl genauso gut oder schlecht wie anderswo. Sie pflückten das Obst und pflanzten |96| neue Obstbäume, die in der Zukunft neue Generationen junger Männer aus Mexiko und Mittelamerika abernten würden.
Erst als sie auf einer Broccolipflanzung arbeiteten, wurde Manuel bewusst, wie viele Landsleute schon nach Norden gewandert waren. Der Farmer, für dessen Plantage sie ein Bewässerungssystem bauten, war der beste, für den sie bis dahin gearbeitet hatten. Oft kam er abends mit ein paar Dosen Bier bei ihrer Baracke vorbei, setzte sich zu ihnen und erzählte.
»Eine halbe Million im Jahr mindestens«, sagte Roger Hamilton und lachte. »Hier im Land gibt es 23 Millionen Menschen mexikanischer Herkunft.«
Er gab Manuel ein Bier. Der trank einen Schluck und versuchte sich die Menschenmenge vorzustellen. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
»Das liegt an eurer Regierung«, fuhr der Farmer fort. »Die wollen euch nicht mehr haben.«
Ähnliches hatte Manuel zu Hause auch schon gehört. Die Organisation der Bauern hatte ein Büro in Oaxaca, dort hatten sie NAFTA, das Freihandelsabkommen zwischen Mexiko und den USA diskutiert. Für Manuel und die meisten anderen dort war das undurchschaubar gewesen. Worauf NAFTA abzielte, hatten sie erst verstanden, als billiger Mais aus der Überschussproduktion von Georgia und Alabama das Land überschwemmte.
Da wanderten die Menschen aus den Dörfern ab, und mehr und mehr ging alles Alte vor die Hunde. Wer will feiern, wenn die Jugend die Dörfer verlässt? Viele junge Männer zog es in den Norden wie zu einem Initiationsritus. Manuel vermutete, dass Angel und Patricio deshalb so viel daran lag, dass er sie mit nach Kalifornien nahm. Sie wollten Männer werden.
Der Broccolifarmer brachte auch immer Essen mit zu den |97| Brüdern. »Dann braucht ihr euch keine Mühe zu machen«, sagte er und lächelte. Er lächelte oft. Er lächelte auch, als sie ihn zum letzten Mal sahen. Da hatte er die Brüder um den ausstehenden Lohn betrogen, mehr als fünftausend Dollar, indem er sie bei der Polizei anzeigte, die sie vor der Baracke abholte.
Als sie in einer Art Lieferwagen zurück zur Grenze transportiert wurden, schwiegen sie. In Tijuana stiegen sie aus. Manuel hatte beschlossen, dass sie Mexiko niemals mehr verlassen würden, um im Norden zu arbeiten.
»Das sind nur ein paar Hundert, für die es sich richtig
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