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Rot wie Schnee

Rot wie Schnee

Titel: Rot wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Körper keine weiteren Verletzungen.
    »Das reicht ja auch«, erklärte Haver.
     
    Nach dem Meeting ging Lindell in Ottossons Büro und berichtete ihm von Viola. Sie hätte einfach weggehen können, ohne Bescheid zu geben. Aber nach dem Vorkommnis im letzten Jahr, als sie sich allein zu einer Fahndung aufgemacht hatte und sie den Fehler beinahe mit dem Leben bezahlen musste, lag ihr daran, dass Ottosson Bescheid wusste. Und wenn es sich nur um den Besuch in der Orthopädie der Uniklinik handelte, der an sich nicht mit Lebensgefahr verbunden sein sollte.
    »Natürlich musst du die alte Frau besuchen«, sagte Ottosson.
     
    |106| Dort an der Uniklinik einen Parkplatz zu finden, war so gut wie unmöglich. Schließlich war Ann es leid, und sie stellte das Auto neben einer Baustelle ab, legte die Polizeimarke ins Fenster und ging davon, ohne sich um die Proteste der Handwerker zu kümmern.
    Viola lag in einem Einzelzimmer. Sie hatte den Kopf dem Fenster zugewandt, offenbar hatte sie nicht gehört, dass die Tür aufging. Ann wusste nicht, ob sie schlief.
    Die Alte wirkte noch schmaler als sonst. Die dünnen Arme ruhten auf der Decke. Die weißen Haare, auf der Insel meist unter einer Baskenmütze verborgen, waren ungekämmt. Sie lag völlig reglos da. Aber dann sah Ann, wie Violas magere Finger an der Bettdecke zupften. Die dünnen Sehnen unter den mit Leberflecken übersäten Handrücken spannten sich so regelmäßig an und lockerten sich wieder, dass Ann schließlich überzeugt war, Viola sei doch wach.
    Woran mochte die alte Frau denken? Ann machte auf dem Absatz kehrt, und die Tür glitt hinter ihr zu. Eilig ging sie den Korridor hinunter.
    Vor dem Stationszimmer stand eine Krankenschwester. Ann trat auf sie zu und stellte sich vor.
    »Ich kenne Sie«, sagte die Krankenschwester. »Ich habe im letzten Jahr auf der Intensivstation gearbeitet.«
    »Aha.« Ann schämte sich auf einmal, wie eigentlich immer, wenn sie an die Ereignisse erinnert wurde. »Ich hatte Viola besuchen wollen, aber ich glaube, sie schläft, und ich will sie nicht stören. Bitte grüßen Sie Viola doch von mir, und sagen Sie ihr, ich sei da gewesen.«
    Die Krankenschwester betrachtete Ann, dann nickte sie.
    »Das kann ich machen, aber ich bin sicher, Viola würde sich freuen, wenn   …«
    »Ich will sie nicht wecken«, sagte Ann mit Nachdruck. »Ich habe es etwas eilig«, fuhr sie in versöhnlicherem Ton fort und schämte sich noch mehr.
    |107| »Sind Sie verwandt?«
    »Nein, gar nicht. Wie geht es ihr?«
    »Sie ist   …«, die Schwester suchte nach dem passenden Wort, »…   ein richtiges Teufelsweib. Nein, nein, ich mach nur Spaß! Wie soll ich das ausdrücken, sie ist recht herb, aber eine unvergleichliche Frau. Die weiß genau, was Sache ist. Sie erzählt uns, wie sie, sobald sie wieder zu Hause ist, als Erstes dem Huhn den Hals umdrehen will.«
    »Genauso redet Viola, seit ich sie kenne. Aber grüßen Sie sie bitte«, sagte Ann abschließend.
    Die Krankenschwester nahm noch einmal Anlauf, etwas zu sagen, nickte dann aber nur, lächelte ihr professionelles Lächeln und ging ins Stationszimmer.
    Als Ann zum Aufzug kam, machte sie noch einmal kehrt.
    »Eines noch. Bekommt sie Besuch?«
    »Ja, ihr Sohn ist mehrmals hier gewesen. Ich glaube jedenfalls, das ist ihr Sohn. Und dann noch ein älterer Mann.«
    »Ich schaue ein anderes Mal vorbei«, sagte Ann.
    »Tun Sie das. Sie schläft selten tagsüber, da hatten Sie Pech.«
     
    Lindell kehrte zum Präsidium zurück, holte sich in der Kaffeeküche eine Tasse Kaffee und blätterte die Zeitung durch. ›Uppsala Nya Tidning‹ brachte den Mord groß aufgemacht auf der ersten Seite. Das Foto vom Fluss hätte sich auch auf der Reklamebroschüre der Gemeinde gut gemacht. Es war offenbar spät am Abend aufgenommen. Die Sonne war bereits hinter dem Hügelrücken des Sunnerstaås untergegangen, und das schwindende Licht schuf über der Wiese, dem bleigrauen Wasser und den goldgelben Schilfhalmen eine zauberische Stimmung. Einige Enten im Flug vervollständigten das Bild ländlicher Idylle.
    Ann Lindell hatte schon so oft erlebt, wie sich hinter einer vermeintlichen Idylle unerwartet Abgründe von Gewalt und |108| Trauer auftaten. Die Landschaft an sich war unschuldig. Sie wurde nur zum Schauplatz für menschliches Versagen.
    Lindell fand es aus polizeilicher Sicht schlimmer, auf dem Lande einen Mord aufzuklären, wo sich Menschen in der unerschöpflichen Vielfalt der Natur verborgen hielten. Ihr fiel

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