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Rot wie Schnee

Rot wie Schnee

Titel: Rot wie Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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gestresst.«
    Manuel starrte ihn an, versuchte zu begreifen.
    »Es gibt eine Menge Rassisten, und die mögen keine Latinos, die mit Aids und Drogen hierherkommen.«
    »Aids? Ist Patricio krank?«
    Armas lachte.
    »Ich finde, du solltest nach Hause in die Berge fahren«, sagte er. »Heute noch.«
    Da plötzlich verstand Manuel alles. Er war eine Bedrohung. Patricio war eine Bedrohung. Solange sie am Leben waren, konnten sie singen. Er zog sich zurück, Armas kam hinter ihm her.
    |103| »Ich bleibe«, sagte Manuel. »Ich muss mich um meinen Bruder kümmern.«
    »Wenn ich dir sage, dass du nach Hause fahren sollst, dann tu das. Das ist das Beste für dich und deinen Bruder.«
    »Und für dich und den Dicken?«
    »Für alle«, sagte Armas.
    »Ich will Gerechtigkeit«, sagte Manuel.
    Da steckte Armas die Hand in die Jackentasche und zog eine Pistole heraus. In seiner Hand wirkte sie wie ein Spielzeug.
    Im Grunde war Manuel nicht erstaunt.
    »Willst du mich umbringen?«, sagte er und griff nach dem Stilett in der Hosentasche. Beim Herausziehen klickte es metallisch. Manuel warf sich nach vorn, riss den Arm hoch und zog durch. Der Schnitt saß perfekt. Im selben Moment feuerte Armas die Pistole ab.
    Das alles war innerhalb weniger Sekunden geschehen.
     
    Als Manuel den schweren Körper zum Fluss hinunterschleppte, zerriss Armas’ Hemd und entblößte Schulter und Oberarm. Er erkannte die Tätowierung, und in ihm wuchs ein unerhörter Zorn. Wie kam dieser Mörder und Drogenhändler dazu, sich eine gefiederte Schlange auf seine weiße Haut tätowieren zu lassen? Manuel empfand das als solche Schmach und Schande, dass er nach dem leblosen Körper trat. Weder Armas noch irgendein anderer Gringo konnte verstehen, was
Quetzalcóatl
bedeutete. Er nahm das Stilett und trennte die Tätowierung mit einem raschen Schnitt ab.
     
    Immer wieder ging Manuel den Verlauf der Ereignisse durch. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass er sich bei der tödlichen Abrechnung am Fluss wie von außen wahrnahm. Er war nie im Leben in einem Theater gewesen, man hatte ihm nur einmal eine Vorstellung nacherzählt. Aber so stellte er |104| sich ein Drama vor. Armas und er waren die Schauspieler, die Akteure in einer Inszenierung.
    Die schöne Natur, die vom Grün der Bäume eingerahmte Lichtung, die Rosen mit den Hagebutten, Gestrüpp, an dessen Fuß dunkelgrünes Laub spross, und in einiger Entfernung im Schilfgürtel das Schnattern der Enten, das war die Kulisse für ein Drama auf Leben und Tod gewesen.
    Die Verteilung der Rollen war so simpel wie die Dramaturgie: ein Mann, bereit zu töten, und ein anderer, der dazu gezwungen war. Dazu bedurfte es keiner Regie, das war das Leben selbst, das für Dialoge und Gestaltung stand.

15
    V or allem im Frühling und Sommer wachte Ann Lindell manchmal mit so einem schönen Gefühl auf. Als würde sie an einem sonnigen Sommermorgen ins Freie treten. Oder als hätte ihr jemand unerwartet ein Kompliment gemacht.
    Sie blieb noch eine Weile im Bett liegen, reckte und streckte sich und hing, noch im Halbschlaf, dem Traum nach, der ihr dieses angenehme Gefühl vielleicht beschert hatte.
    Die Wärme unter der Decke tat ihr gut. Sie schlief fast immer nackt, nur manchmal, aus einer Mischung von Scham und Schutzbedürfnis, behielt sie den Slip an. Sie wusste selbst nicht, wie sie das Gefühl beschreiben sollte, aber das war ihr auch egal. So war es eben.
    In diesem Zustand von schwereloser Ruhe strich sie sich über Brust und Bauch.
    Erik würde jeden Moment aufwachen, gut gelaunt, wie fast an jedem Morgen.
     
    |105| Ottosson lachte, als Lindell vor ihm stand und in den Aufzug steigen wollte, mit dem er gerade ankam.
    »Ach, du bist es.«
    »Ja, genau«, sagte Ann Lindell und lächelte.
    Er drehte sich um und rief schnell, ehe sich die Aufzugtüren schlossen, er sei in fünf Minuten da.
    Dann dauerte es doch zehn Minuten, ehe Ottosson zu den Übrigen stieß, die an der Ermittlung des Mordfalls »Jack« arbeiteten.
    »Entschuldigung«, sagte Ottosson, »aber der Aufzug streikte.«
    Das wenige, was sie zusammengetragen hatten, war schnell berichtet. Der Ermordete war noch immer nicht identifiziert. Seine Fingerabdrücke waren nirgendwo registriert. Ermittler aus anderen Abteilungen hatten das Foto gesehen, aber er war allen unbekannt.
    »Jack« war tot, als er mit durchgeschnittener Kehle im Wasser landete, das ließ sich problemlos konstatieren. Außer der Wunde von der weggeschnittenen Tätowierung gab es am

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