Rot wie Schnee
die letzte Ermittlung ein, bei der man ein Bauernpaar in seinem Haus ermordet hatte. Wie konnte dort etwas so Unheimliches passieren? Die gesamte Umgebung schien ihr geschändet zu sein. Das Verbrechen, die Ermordung eines anderen Menschen, kam ihr vor dem Hintergrund einer friedlichen Lichtung im Wald noch obszöner vor.
Da war ein Mord in einer Wohnung mitten in der Stadt schon fast natürlicher. Niemand schien erstaunt zu sein, dass jemand einen anderen in einer Küche umbrachte, vollgestopft mit den Dingen des alltäglichen Lebens. Eher im Gegenteil – wieso wurden nicht viel mehr Menschen Opfer von Gewalt? Eine Blutpfütze auf einer Straße erstaunte niemanden. Eine Blutpfütze auf dem Moos im Wald war wider alle Vernunft.
»Lindell, die Philosophin in Aktion!«
Sie drehte sich um. Ottosson hatte eine Kaffeetasse in der Hand. Sie hatte ihn nicht kommen gehört. Sie lächelte zwar, schätzte es aber eigentlich nicht, in ihren Gedanken unterbrochen zu werden. Bei jedem anderen hätte sie sich sehr abweisend verhalten.
Sie erzählte Ottosson von ihren Überlegungen. Er schenkte sich Kaffee ein und setzte sich zu ihr.
»Du hast recht«, sagte er, als sie schwieg, »und auch wieder nicht. Eine Küche, eine winzige Absteige, egal wie klein und heruntergekommen, vermitteln Sicherheit. Oder sollten es tun. Ein Dach über dem Kopf zu haben, Heizung und Essen auf dem Tisch schaffen die Voraussetzung, ein anderer zu werden, wenn du weißt, was ich meine. Wir streben die ganze Zeit nach …«
Er schwieg, als könne er den Gedankengang nicht zu Ende |109| bringen, als könne er ihn nicht in Worte fassen oder als verstünde er selbst nicht ganz, was er sagen wollte.
»Menschen sind sonderbare Tiere«, sagte er schließlich und griff damit ein abgenutztes Klischee auf, das nur seine Frustration zum Ausdruck brachte.
»Hat sich noch keiner gemeldet?«, fragte Lindell.
Normalerweise stand das Telefon im Präsidium nach einem Bericht über einen Mord nicht still. Spontane Hinweise, die in den meisten Fällen nichts ergaben.
»Nein, nichts, was einen Hinweis auf die Identität gibt«, sagte Ottosson. »Ich habe schon überlegt, ob er nicht aus Uppsala ist, sondern dass man ihn hierhertransportiert und in den Fluss geworfen hat.«
»Warum ausgerechnet da?« Lindell sah sofort das Lächerliche ihrer Frage ein. Das Handeln eines Mörders war meist nicht von Rationalem bestimmt.
Ottosson zuckte die Achseln.
»Vielleicht bringt die Runde durch die Stadt ein Ergebnis.«
Sie hatten das Foto des Ermordeten vervielfältigt, und nun suchten Ermittlungsbeamte Personen auf, die ihn vielleicht wiedererkennen konnten. Es handelte sich dabei um die übliche Klientel von Drogenabhängigen und Kleinkriminellen. Manchmal waren sie bereit, Informationen weiterzugeben, meist in der Hoffnung, selbst in besserem Licht dazustehen. Häufig waren sie auch einfach deshalb an einer schnellen Lösung interessiert, weil Mordermittlungen die eigenen Geschäfte störten.
Routinemäßig hatte die Gruppe der Ermittler denkbare Motive diskutiert. Das waren Spekulationen, die vielleicht nicht so viel ergaben, schon gar nicht, da sie die Identität des Opfers nicht kannten. Aber sie setzten die Maschinerie in ihren Köpfen in Gang. Ein Gedanke, und selbst wenn er verworfen wurde, führte zu einem anderen und einem dritten, und immer so weiter. Alles zusammen ergab eine Mischung |110| aus losen Vermutungen. Am Ende ließen sich daraus vielleicht ein Motiv und schließlich ein Täter ableiten.
»Die Tätowierung ist der Schlüssel, vielmehr, dass sie entfernt wurde«, sagte Lindell.
Ottosson pflichtete ihr bei.
»Warum lässt man sich tätowieren?«
»Um eine Zugehörigkeit zu demonstrieren«, sagte Lindell. »Ein Bündnis.«
»Früher gehörte man damit zu einer bestimmten Klasse oder Gruppe«, meinte Ottosson. »Nur die hatten Tätowierungen. Heute sind selbst die kleinen Mädchen hier und da tätowiert.«
»Das funktioniert wohl wie so eine Art Markierung, man sucht sich ein Motiv aus, das etwas über einen selbst aussagt oder was man für ein Leben führen will, oder über die Richtung, die das Leben nehmen soll.«
»Oder nur was Witziges, worauf man im Rausch verfällt«, meinte Ottosson.
»Wie so einer wirkt der nicht.«
»Vielleicht in der Jugend.«
Lindell schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, warum, aber der Typ ist kein gewöhnlicher … Kleinhändler, der sich in Nyhavn betrinkt.«
»Aber in der Jugend«, beharrte
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