Rot
steckte dahinter die Angst, irgendetwas ungewollt zu verraten, wenn er jemandem zu sehr vertraute. Die Arbeit in der Welt der Aufklärung hatte ihm alles genommen, und bald würde sie ihm auch noch das Letzte nehmen.
Auf seinen Schlussauftritt war Grover dennoch ein wenig stolz. Er hatte seinen Betreuer Golowkin belogen und behauptet, der SIS sei der Zentralbank von Mundus Novus schon ganz dicht auf den Fersen. Ihm war klar gewesen, dass die Russen dann gezwungen wären, ihr Geld in Sicherheit zu bringen. Derart große Geldtransaktionen würde der SIS bemerken, wenn er darauf vorbereitet war. Deshalb hatte er es Betha Gilmartin mitgeteilt. Er wollte dem SIS einen letzten Dienst erweisen – ihm helfen, der Zentralbank von Mundus auf die Spur zu kommen. Etwas Wichtigeres wusste er nicht; Golowkin hatte ihm nicht viel verraten. SeineAufgabe war es schließlich gewesen, Informationen zu liefern und nicht zu empfangen. Auch von der Existenz einer Zentralbank hatte man ihm nichts gesagt. Doch anhand einiger Nebensätze Golowkins und der Beweise, die er beim SIS in die Hände bekommen hatte, war er selbst zu diesem Schluss gelangt.
Wahrscheinlich hatte Mundus Novus schon von seinem Verrat erfahren. Man würde ihn garantiert liquidieren, egal ob er auf den Bermudas, den Jungferninseln oder in einer sibirischen Erdhöhle lebte. Ausgerechnet er sollte in seinen verbleibenden Jahren mit geblümten Shorts an einem Sandstrand liegen? Die Vorstellung war lächerlich, richtigen Urlaub hatte er das letzte Mal irgendwann in den neunziger Jahren gehabt, und wenn seine Erinnerung nicht trog, hatte er auch den mit überfälligen Renovierungsarbeiten am Haus verbracht. Er besaß kein einziges Hobby, wenn man Snooker und Gintrinken nicht mitrechnete, und er hatte auch keine einzige Frau mehr aufgerissen, seit eine frisch geschiedene Religionswissenschaftlerin fast gegen seinen Willen bei ihm Trost gesucht hatte. Das war 2007 bei einem Abendessen am Valentinstag im Club »Oxford and Cambridge« gewesen.
»Dauert es noch lange?«, rief der Mann vom MI5 im Erdgeschoss.
»Es sind noch nicht mal zwanzig Minuten vergangen. Man hat mir eine Stunde zugesagt«, erwiderte Grover.
Jetzt wollte er dem SIS einen allerletzten Gefallen tun. Wenn Mundus Novus ihn umbrachte, ließe sich ein Skandal wahrscheinlich nicht vermeiden. Immerhin ginge es dann um den Tod eines hochrangigen Beamten. Journalisten würden mit Sicherheit solange in seiner Vergangenheit herumstochern, bis sie herausfanden, worin seine Arbeit bestanden hatte. Und falls sein Verrat ans Licht käme, würde das dem SIS schweren Schaden zufügen. Im Laufe der Jahrzehnte hatte er natürlich begriffen, dass es ein Fehler gewesen war, auf den Schlitten der Russen aufzuspringen, und er hatte auch erkannt, auf welcher Seite er hätte stehen müssen. Jedenfalls ganz gewiss nicht auf der von Mundus Novus.
Clive Grover zog die Schublade auf und legte eine Injektionsspritze und eine Glasampulle mit der Aufschrift T 61 auf den Schreibtisch. Das Mittel war ihm von Golowkin genau für diesen Zweck ausgehändigt worden, obwohl der das nie ausgesprochen hatte. Es war bezeichnend, dass Mundus Novus seine wichtigen Kooperationspartner mit einem Gift ausstattete, das vornehmlich zum Töten von Tieren eingesetzt wurde. Auch Gilbert Birou, dessen Abschiedsbrief seine endgültige Enttarnung durch den MI5 verursacht hatte, war mit diesem Mittel in die nächste Dimension eingegangen. Grover fand das beinahe amüsant.
Seine Hand zitterte ein wenig, als er zur Giftampulle griff. Er hatte Angst, das musste er sich eingestehen. Zum Glück war das T 61 sehr effektiv: Es enthielt drei Stoffe, von denen jeder seine spezielle Aufgabe hatte: Tetracainhydrochlorid betäubte, Embutramid schläferte ein und Mebezoniumiodid lähmte und tötete. Er steckte die Kanüle der Injektionsspritze in die Ampulle, zog den Behälter voll mit glasklarem Gift und stieß sich die Nadel in die Vene.
Einen Abschiedsbrief würde er nicht hinterlassen. Dylan war zu jung, um so etwas zu lesen. Er hinterließ seinem Enkel lieber alles, was er besaß.
* * *
Die Maschine des Direktflugs der Air Berlin aus Helsinki landete 10:09 Uhr auf dem Flughafen Frankfurt am Main, mit vierzehn Minuten Verspätung. Kati Soisalo saß auf Platz 26B und staunte über die große Zahl der Wolkenkratzer in der Stadt der Banken. Seit dem Vortag musste sie alle Kraft aufbieten, um ihre Gefühle im Zaum zu halten und ihre Hoffnung zu zügeln. Wenn sie bei
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