Rot
der Suche nach Vilma in drei Jahren etwas gelernt hatte, dann zumindest eines: Man sollte sich erst freuen, einen verloren geglaubten Menschen wiedergefunden zu haben, wenn man ihm die Handdrückte. Aber dieser Kampf gegen die Gefühle war aussichtslos, sie konnte ihre Erinnerungen nicht unterdrücken. Die drei gemeinsamen Jahre mit Vilma gingen ihr ständig durch den Kopf.
Die Taxifahrt ins Frankfurter Stadtzentrum dauerte am Sonntagmorgen nur eine Viertelstunde. Das Hotel Ramada befand sich in einem schönen alten Haus etwa zweihundert Meter entfernt von dem Wolkenkratzer, in dem die Europäische Zentralbank ihren Sitz hatte und in dem Helena Poulsen arbeitete. Kati Soisalo füllte den Anmeldeschein des Hotels aus, während die Angestellte an der Rezeption verstohlene Blicke auf ihre kurzen Haare und die Narbe warf. Danach stieg sie die Treppe hinauf in die erste Etage. Innen sah das Ramada genauso aus wie die meisten anderen Cityhotels großer Städte – sauber, aber unpersönlich.
Im Zimmer kam ihr der Gedanke, dass Vilma bestimmt Mutter zu Helena Poulsen sagte. Eine Erkenntnis, die niederschmetternd wirkte, denn ihr wurde klar, dass sie Angst vor der Begegnung mit ihrer Tochter hatte. Sie ließ sich aufs Bett fallen. Jetzt musste sie zur Ruhe kommen und ihre Gedanken ordnen, diese Reise würde keinesfalls leicht werden. Laut Jukka Ukkola war Vilma auf legalem Wege adoptiert worden. Sie durfte nicht einfach in die Wohnung der Poulsens marschieren und verkünden, sie sei Vilmas richtige Mutter. Selbstverständlich könnte sie zur Polizei gehen, ihre Geschichte erzählen und abwarten, bis sich die Mühlen der Bürokratie in Bewegung setzten, aber zuallererst wollte sie die Gewissheit, dass sie ihre Tochter gefunden hatte.
Kati Soisalo holte aus ihrer Schultertasche eine Mappe und nahm die Unterlagen heraus, die sie von Paranoid bekommen hatte. Natürlich hoffte sie, dass die Poulsens einwilligten, ihr Vilma auf zivilisierte Weise zurückzugeben. Doch falls Probleme auftreten sollten, wäre sie bereit, eine DNA-Probe abzugeben und ihre Tochter vor Gericht zurückzufordern.
Sie überflog Paranoids Notizen und wunderte sich einmal mehr, zu welcher Grausamkeit die Menschen fähig waren. Die AdoptionVilmas hatte die Gruppe Veliki organisiert, die zur albanischen Mafia gehörte. Sie beschaffte Kinder bei Menschenhändlern, von armen oder drogensüchtigen Müttern aus der Ukraine, aus Russland und von Roma-Frauen aus den Balkanländern. Die albanische Organisation, die sich in einem großen Teil Westeuropas eingenistet hatte, wählte die Käufer sorgfältig aus: Sie suchte nach Frauen, die verzweifelt ein Kind haben wollten, und heuerte dafür sogar in Krankenhäusern Informationsquellen an, die mitteilten, wenn eine künstliche Befruchtung erfolglos verlief. Das Pech des einen war das Glück des anderen.
Kati Soisalo las das Wort Kinderfabrik und schüttelte den Kopf. Wenn Veliki einen Käufer fand und die Bestellung für ein Kind erhielt, suchten die Kriminellen sich eine für das Austragen des Kindes geeignete junge Frau, die dann einer der Gangster der Gruppe schwängerte. Natürlich betreute man die werdende Mutter in der Zeit der Schwangerschaft hervorragend und befriedigte all ihre Bedürfnisse – die Investition sollte geschützt werden. Die Geburt fand meist in irgendeinem Privathaus statt, in einer sogenannten Kinderfabrik. Ein Arzt und eine Hebamme, die von den Albanern bezahlt wurden, sorgten dafür, dass alles reibungslos ablief.
Ein Teil dieser Frauen wurde fast genauso rekrutiert wie die zur Prostitution gezwungenen Opfer der Menschenhändler. Die Kriminellen versprachen einer von einem besseren Leben träumenden jungen Frau aus irgendeinem armen osteuropäischen Land, sie in ein EU-Land zu bringen und besorgten ihr einen Pass und andere Papiere. Wenn sie an ihrem Zielort ankam, in Athen, London, Berlin oder anderswo, bekam die Frau zu hören, dass sie ihnen zehntausende Euro schuldete. Ihre Reisepapiere wurden beschlagnahmt, und man zwang sie, als Gegenleistung für ihre Schulden ein Kind zu gebären. Danach ereilte sie oft das gleiche Schicksal wie die Opfer des Menschenhandels – sie musste sich verkaufen. Die Kriminellen verdienten an einer dieser Frauen zehntausendeEuro: Der Preis für Babys lag zwischen fünfzehntausend und dreißigtausend Euro, für blauäugige und blonde Kinder wurden Höchstpreise gezahlt. Und als Prostituierte brachte die Frau ihnen gut und gern noch mal so eine
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