Rot
Taxifahrer wenige Minuten nach ihrer Abfahrt vom Hotel Sofitel am Flughafen Heathrow. Er hatte dort übernachtet und nicht bei Betha, weil er in Ruhe nachdenken wollte. Für alles, was während der letzten Tage in Finnland Kabinettsmitgliedern zugestoßen war, trug Manas die Verantwortung, da war er sich vollkommen sicher. Es erschien unbegreiflich, dass man den geistesgestörten Kirgisen laut Anni Alanko auf dem Bahnhof nicht gefasst hatte. Er verspürte keine Lust, sich vorzustellen, was Manas mit ihm gemacht hätte, wenn nicht gerade der Streifenwagen gekommen wäre.
Es war halb zehn, an einem Sonntagmorgen würden sie die etwa zwanzig Kilometer in einer reichlichen halben Stunde schaffen, werktags um diese Zeit kroch der Verkehr im Schneckentempo dahin oder stand. Plötzlich fiel Kara ein, dass er in Finnland wieder vergessen hatte, sich bei der Schwester seines Vaters zu melden, die in der Nähe von Jyväskylä wohnte. Er beschloss, seine Tante Eeva irgendwann anzurufen. Vielleicht würde er es bei diesem Aufenthalt in London wenigstens schaffen, sein Patenkind Oliver zu besuchen.
Kara hörte, dass auf seinem Handy eine SMS eingegangen war. Hatte Kati Vilma schon gefunden? Er war sofort hellwach, als er sah, dass die Nachricht von einer unbekannten Nummer stammte.
Leo. Ich habe Kontakt zu einem Mann bekommen, der dir helfen und fast alles erklären kann, was du wissen willst. Reise nach Wien,am besten gleich, er wartet heute und morgen um zwölf Uhr auf dem Stefansplatz vor dem Stefansdom. Vater.
Karas erste Reaktion war Verärgerung. Warum schrieb Vater nicht etwas mehr? Wen sollte er treffen und warum gerade in Wien? Dann loggte er sich ins Internet ein und ging den Flugplan durch, sah aber schnell ein, dass er es trotz des Zeitunterschieds von einer Stunde auf keinen Fall schaffen würde, um zwölf in Wien zu sein.
Der Grund für die Schweigsamkeit des Taxifahrers stellte sich heraus, als der Mann in der Clonmel Road fragte, wo er halten sollte. Sein Englisch war kaum zu verstehen.
»Hier ist es okay. Können Sie ein paar Minuten warten, dann fahren wir anschließend weiter«, sagte Kara, reichte dem Mann mit geröteter Haut seine Kreditkarte und stieg auf der Straße aus, in der früher sein Zuhause gewesen war.
Das zweistöckige, cremefarbene Haus sah noch genauso aus wie am 13. Oktober 1989. Zu seiner Überraschung fühlte sich Kara auf schmerzhafte Weise einsam. Er war Opfer und nicht Schuldiger; er hatte seine Familie verloren und niemandem Schaden zugefügt. Alles Gute in seinem Leben war vor dem 13. Oktober 1989 passiert, danach folgte nur noch ein einziges großes, nicht beherrschbares Chaos. Kara schniefte wütend, als er an seinen Onkel Lionel denken musste. Der war Ende 1989 zu seinem Vormund bestimmt worden. Als Allererstes hatte das Schwein ihn in die Internatsschule von Winchester gesteckt. Er sah es vor sich: die spartanischen Feldbetten, die viel zu dünnen Matratzen und das allmorgendliche Bettenbauen peinlich genau nach Vorschrift, die von den Lehrern ausgewählten Feldwebel, die andere Schüler bei jeder Gelegenheit schikanierten, die obligatorischen Gottesdienste am Sonntag, die körperlichen Züchtigungen …
Einer Eingebung folgend holte Kara ein Schlüsselbund aus der Tasche. Aus irgendeinem Grund hatte er den Schlüssel seines alten Zuhauses in all den Jahren mit sich herumgetragen. Er klingelte ein halbes Dutzend Mal und trat zurück auf den Fußweg, umzu sehen, ob sich hinter irgendeinem Fenster die Gardinen bewegten. Es war Sonntag, vielleicht machten die Bewohner des Hauses übers Wochenende einen Ausflug. Er schob alle Bedenken beiseite, steckte den Schlüssel ins Schloss und war verdutzt, als die Tür aufging. Rasch trat er hinein und schaltete das Licht an, merkwürdigerweise fand seine Hand den Schalter sofort, aus alter Gewohnheit. Die Einrichtung war pastellfarben und modern, ganz anders als vor zwanzig Jahren, aber trotzdem brachen die Erinnerungen mit voller Wucht über ihn herein. Schöne Erinnerungen. Sie waren so schön, dass er die Augen schließen musste.
Kara ging in die Küche und schüttelte den Kopf, als er das Fenster erblickte, das damals zersplittert war, mit dem also gewissermaßen alles angefangen hatte. Er verdrängte das Bild aus der Vergangenheit und stieg hinauf ins Obergeschoss. In Emmas Zimmer wohnte jetzt nach dem Spielzeug zu urteilen ein kleiner Junge, das ehemalige Schlafzimmer seiner Eltern war in indischem Stil eingerichtet. Schließlich
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