Rot
Wiederholt habe ich auf die Gefahr hingewiesen, dass ein Anschlag in erster Linie die Energieinfrastruktur, die Stromnetze, treffen wird. Und jetzt hat man das Datennetz des Stromversorgungsunternehmens angegriffen. Der Anschlag wurde mit einer äußerst hoch entwickelten Angriffssoftware ausgeführt, die man schon vor längerer Zeit im Datennetz des Stromversorgungsunternehmens versteckt und heute um 10:17 Uhr aktiviert hat.«
»Wer trägt dafür die Verantwortung ?«, fragte Betha Gilmartin.
»Es wird verdammt schwierig sein, den Angreifer zu ermitteln. Die Entwicklung eines derartigen Programms hat Millionen gekostet, da steckt wohl kaum eine kleine Werkstatt dahinter oder ein einzelner Hacker, der es auf den Ruhm abgesehen hat. Wenn man wetten müsste, würde ich auf China oder Russland setzen. Die sind schon dabei erwischt worden, wie sie die Datensysteme amerikanischer Stromkonzerne ausgespäht haben.«
»Ein technischer Defekt ist also ausgeschlossen?«
Der Chef des OCS lächelte. »Die Datensysteme der US-Kommandozentrale für die Kriegsführung im Datennetz sind exakt zum selben Zeitpunkt ausgefallen, als der Metroverkehr in London zum Stillstand kam. Es handelt sich um einen Angriff, da gibt es nicht den geringsten Zweifel.«
Betha Gilmartin dankte dem Mann vom OCS, der sich den Schweiß von der Glatze wischte, und schüttelte den Kopf. Kriegsführung im Datennetz, Cyberkrieg, Hackerkrieg – sie hatte das Gefühl, schon allein in der Flut von Begriffen der elektronischenKriegsführung unterzugehen. »Sind bei uns irgendwelche Ermittlungen oder Überwachungsmaßnahmen im Gange, die mit dem Stromversorgungsunternehmen oder seinen Mitarbeitern zusammenhängen?«, fragte sie schließlich.
Ihre Mitarbeiter schauten sich an, bis schließlich Colleen Carter den Mund aufmachte. »Das Unternehmen wurde kürzlich verkauft. Es gehört jetzt dem Cheung-Kong-Konzern, das heißt dem Milliardär Li Ka-Shing aus Hongkong. Diese Spur zumindest deutet auf China hin.«
* * *
Clive Grover blieb eine Stunde Zeit. Nur unter Aufbietung seiner ganzen Überredungskunst hatte er den MI5 dazu bewegen können, ihn bei sich zu Hause vorbeischauen zu lassen. Ursprünglich hatten sie vorgeschlagen, er solle eine Liste der benötigten Dinge schreiben. Nun steckte er das letzte Mal den Schlüssel in die Tür seiner Wohnung in der Marloes Road in Kensington und betrat den Flur. Einer der beiden Wächter, oder sollte er sie jetzt besser Beschützer nennen, folgte ihm.
Grover zog die Schuhe aus, obwohl er diese Wohnung nie wieder sehen würde. Doch auch in seinem Leben herrschte schließlich eine Art von Ordnung. Er hängte den Mantel an die Garderobe und ertappte sich wiederholt bei dem Gedanken: Das ist jetzt das letzte Mal. Diese alltäglichen, einfachen und vertrauten Rituale würde er nie wieder ausführen.
Er ging kurz in die Küche und ins Wohnzimmer; hier hatte sich seit fünfzehn Jahren nichts geändert, seit dem Tag, an dem seine Frau die Nase voll gehabt hatte von einem Ehemann, den sie meist nur auf den Fotos sah, die auf dem Kaminsims standen. An das Geräusch, wenn seine Kinder umhertobten, an ihre Spiele oder ihr Kreischen konnte er sich nicht einmal mehr erinnern, vielleicht hätte er öfter zu Hause sein müssen, um sie zu hören.
»Ich gehe ins Obergeschoss, das Arbeitszimmer ist oben«, sagte Grover, aber der Mann vom MI5 stand nur da wie ein Denkmal und starrte vor sich hin. Grover stieg die mit braunem Fußbodenbelag bedeckte schmale Treppe hinauf, nahm in seinem Arbeitszimmer aus einem Regal einen Plastikhefter, setzte sich an den Tisch und blätterte darin. Er wartete.
Es dauerte nicht lange, da tauchte der Wächter in der Tür auf. Grover schaute nicht von seinen Unterlagen auf, es sollte so aussehen, als wäre er in seine Lektüre vertieft. Dann ging der Mann hinaus auf den Flur, öffnete und schloss alle Türen, vergewisserte sich, dass die Fenster richtig geschlossen waren, und stieg schließlich die Treppe wieder hinunter ins Erdgeschoss.
Grover klappte den Hefter zu, schob ihn an den Rand des Schreibtischs und stellte die Fotos seiner Exfrau, seiner Kinder und seines Enkels Dylan vor sich hin. Es war Ironie des Schicksals, dass der vierjährige Dylan das einzige Familienmitglied war, mit dem ihn eine funktionierende menschliche Beziehung verband. Alle anderen hatte er mit Erfolg aus seiner Nähe vertrieben. Er hatte niemanden an sich herangelassen, das Risiko war er nicht eingegangen. Vermutlich
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