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Rot

Rot

Titel: Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taavi Soininvaara
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beträchtliche Summe ein, bevor man sie freiließ. Viele überstanden das nicht.
    Kati Soisalo wurde übel, sie richtete sich auf und begriff, dass sie zögerte. Seit drei Jahren suchte sie Vilma, und nun, als sie ihre Tochter offenkundig endlich gefunden hatte, überschwemmte eine Flut von Gedanken ihren Kopf, einer unangenehmer als der andere. Sie war ganz sicher, dass Vilma sie nicht erkennen würde, immerhin hatte das Mädchen schon länger mit den Poulsens zusammengewohnt als mit ihr. Und Kinder besaßen ohnehin in der Regel nicht übermäßig viele Erinnerungen an ihre ersten Lebensjahre. Wie erschüttert wäre Vilma, wenn sie hörte, dass die Poulsens nicht ihre Eltern waren? Würde sie also das Glück einer Familie zerstören? Kati Soisalo hatte allmählich das Gefühl, dass ihr erstes Treffen mit Vilma für alle Beteiligten eine Qual werden würde.
    Sie nahm die Unterlagen erneut in die Hand. Das war jetzt nicht der richtige Augenblick, um in Verzweiflung zu versinken. Die Poulsens wohnten im Westend. Komisch, dass es in so vielen westlichen Städten eine Gegend mit diesem Namen gab. Sie erinnerte sich gelesen zu haben, dass zumindest in London die Reichen irgendwann in der Anfangszeit der Industrialisierung in die westlichen Stadtteile umgezogen waren, weil die vorherrschenden Winde den Rauch der Fabrikschlote nach Nordost bliesen.
    Ihr wurde bewusst, dass sie es immer weiter vor sich herschob, loszugehen. Sie wurde wütend auf sich selbst, sprang auf und zog ihre Jacke an. Auf dem Weg hinunter zur Rezeption rief sie den Navigator ihres Handys auf und tippte die Adresse Staufenstraße 36 ein. Die Entfernung betrug nur anderthalb Kilometer, aber sie fühlte sich so kraftlos, dass sie ein Taxi bestellte.
    Kurz darauf bezahlte sie die Fahrt bei dem freundlichen jungen Mann aus Indien oder Pakistan, stieg aus und stand auf einerschmalen Straße mit nicht sehr hohen hellen Häusern. Das hätte genauso gut in Finnland sein können. Die Bäume am Straßenrand unterschieden sich jedoch von denen, die im alten Teil von Herttoniemi wuchsen. Sie setzte sich auf eine kleine Ziegelmauer und steckte die Hände in die Taschen. Schade, dass sie nicht daran gedacht hatte, Zigaretten zu kaufen. Nun brauchte sie nur zu warten. Sie schaute verstohlen hinauf zu den Fenstern des Hauses, in dem die Poulsens wohnten, und hatte Angst, Vilma zu sehen. Eine Viertelstunde später stand sie auf und betrachtete prüfend die fast leere Staufenstraße. Anscheinend ließen sich die Deutschen am Sonntagmorgen Zeit mit dem Aufstehen. Eine halbe Stunde später war sie allmählich frustriert und dachte schon über verschiedene Methoden nach, wie sie die Poulsens aus ihrer Wohnung locken könnte. Aber ihr fiel absolut nichts Brauchbares ein. Sie wollte dem Ehepaar nicht begegnen, solange sie nicht wusste, ob es tatsächlich die neuen Eltern Vilmas waren. Als sie vor dem Restaurant Knoblauch stehen blieb, bemerkte sie, dass sie hungrig war. Die Speisekarte an der Glastür war einfach, sie konnte den Knoblauch durch die Fenster des französischen Restaurants fast riechen. Sonntags geschlossen.
    Plötzlich hörte sie irgendwo Kinder kreischen, schaute die Straße hinunter und sah einen kleinen Jungen mit Sturzhelm, der auf seinem limettengrünen Fahrrad um die Ecke des Hauses kurvte. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie dem Kind hinterherging, sie bildete sich ein, Vilma irgendwo ganz in ihrer Nähe zu spüren. Jetzt musste sie kühlen Kopf bewahren, denn vor etwa zwei Monaten hatte sie sich von ihren Gefühlen und Hoffnungen überwältigen lassen und irrtümlicherweise ein wildfremdes serbisches Mädchen für ihre Tochter gehalten.
    Kati Soisalo blieb an der Straßenecke stehen und erblickte eine Kinderschar, die auf einem kleinen Spielplatz fröhlich herumtobte. Sie hörte deutsche Wörter und auch englische. Vilma trug einen violetten Overall und einen hellroten Hut mit Krempe. DieHaare darunter verrieten, dass sie noch genauso blond war wie an jenem Septembertag vor drei Jahren, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Wie sie gewachsen war! Vilmas Gesicht wirkte nun schmaler, die Wangen waren nicht mehr so rund, sie sah wie ein richtiges kleines Fräulein aus. Ihre Vilma. Und sie hatte Angst gehabt, ihr eigenes Kind nicht zu erkennen. Kati Soisalo musste etwas weiter weggehen, damit niemand hörte, wie sie weinte.

27
    Sonntag, 9. Oktober
    »Wir fahren doch nach Fulham, in die Clonmel Road«, sagte Leo Kara zu dem stumm wirkenden

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